Großangelegte Essays und fesselnde Bücher von ausgewiesenen Kennern Russlands und der kommunistischen Ideologie und Politik beschäftigen sich hundert Jahre nachher mit dem Erbe der Oktoberrevolution 1917. Die extrem gegensätzlichen Folgen jenes blutigen Experimentes, das mit dem Versprechen einer gerechten und freien Gesellschaft während vieler Jahre große Anziehungskraft auf so viele Menschen ausgeübt hat, kann man gerade in diesen Tagen des Gedenkens an die blutige Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes durch die Sowjets am 4. 11. 1956 in Budapest erleben.

Einerseits betrachtet sich die von den EU-Gremien und internationalen Menschenrechtsgruppen wegen der Verletzung der europäischen Werte wiederholt scharf kritisierte Orbán-Regierung als das wahre Erbe des antikommunistischen und antisowjetischen Aufstandes. Andererseits pflegt keine Führung eines ehemaligen sowjetischen Satellitenstaates so enge persönliche, politische und wirtschaftliche Verbindungen zum Kreml wie Viktor Orbán, der die Politik und Person des einstigen KGB-Oberstleutnants Wladimir Putin an der Spitze Russlands stets über den grünen Klee lobt.

Russland heute bedeutet natürlich keine ideologische Herausforderung der demokratischen Gesellschaften, trotz der Tatsache, dass Präsident Putin den Zerfall der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe bezeichnet hat. Gesinnung und Verständnis von Politik der herrschenden Klasse sind von dem geprägt, was sie mit Putin an der Spitze in der Schule von Dserschinski, Beria und vor allem Stalin gelernt haben. Zynische Machtpolitik wird heute nicht von kommunistischen Parteien am Gängelband der Komintern (oder später des Kominform), sondern durch den enormen Agenten- und Medienapparat des russischen Staates betrieben.

Nicht die tote und diskreditierte Heilsbotschaft des Marxismus-Leninismus gefährdet heute die liberale Demokratie, sondern die perfektionierte Technik der Machtergreifung durch die unter diversen Namen operierenden Institutionen des KGB-Staates. Als die deutschen Kommunisten zum allerers-ten Treffen im nicht einmal gänzlich eroberten Berlin am 2. Mai 1945 aus Moskau eingeflogen wurden, gab Walter Ulbricht, der Architekt der späteren DDR, die Devise aus: "Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben."

Nicht nur die Geschichte des Sowjetkommunismus, sondern auch die des Nationalsozialismus lehrt, dass der Weg zur totalen Macht über die Kontrolle des Innenministeriums, also der Polizei und der Geheimdienste, sowie mittels der Manipulation ihrer Karteien führt. Das gilt noch mehr im Zeitalter des Computers und der Kommunikationsrevolution. Nicht die exzessive Gewalt ist das Markenzeichen einer autoritären Wende, sondern die systematische Lüge, die Manipulation der Medien durch Denunziation und verschleierte "fake news". Der Griff nach dem Innenministerium samt dem Sicherheitsapparat wird auch heute zu Recht als ein Alarmzeichen von jenen gesehen, die den Ablauf der nationalsozialistischen und der kommunistischen Herrschaftssicherung nicht vergessen haben. (Paul Lendvai, 6.11.2017)