Die Stadt Arica ist Ausgangspunkt der Tour.

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Die Ruta de las Misiones führt durch spektakuläre chilenische Landschaften zu renovierten Lehmkirchen.

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Lamas in der Atacama Wüste

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Der Chungará-See mit dem 6.348 Meter hohen Parinacota-Vulkan an der Grenze zwischen Chile und Bolivien ist das Ziel der Themenstraße Ruta de las Misiones.

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Kokatee hilft bei der nächtlichen Kälte in dieser unwirtlichen Gegend.

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Im Garten von Rodrigo Soza sind die Avocados noch so klein wie Kaffeebohnen. Der hochgewachsene Mann, dessen Worte und Gesten dahinfließen wie der dickflüssige Dessertwein, den er verkauft, führt durch das Dickicht hinter seinem Haus. Mehr als 20 Sorten Früchte erntet er das ganze Jahr über – Aprikosen, Guaven, Grapefruits, Pflaumen, Quitten, Mangos und Kaktusfrüchte. Doch am wichtigsten ist ihm der Wein. Im Herbst bereitet er aus den überreifen Trauben der Rebsorte País den zuckersüßen Dessertwein Pintatani zu, für den der Ort Codpa im Norden von Chile bekannt ist.

Süß wie die Wüstensonne

Mit bloßen Füßen zertritt er die Trauben und zerquetscht sie mit zentnerschweren Steinen in einem Netz aus Schilf, durch das der Most herausläuft. "Auf diese Weise wurde der Pintatani in Codpa schon zu Kolonialzeiten hergestellt", erzählt er. Damals transportierten Maulesel und Lamas den begehrten Wein über die nahen Grenzen bis nach Bolivien und Peru. Soza schenkt etwas Pintatani in ein Schnapsglas und reicht ihn zum Probieren. Er schmeckt schwer und süß nach Wüstensonne.

Von der Hafenstadt Arica im äußersten Norden Chiles, wo die Wellen des Pazifiks auf den Stadtstrand donnern, sind wir am frühen Morgen aufgebrochen und stundenlang durch eine Marslandschaft aus Sand und Fels und Hitze gefahren, immer weiter hinauf in die Anden, deren schneebedeckte Gipfel wie weiße Pyramiden in der Ferne aufragten. Wir hielten an, wo langarmige Kakteen mit hellgelben Blüten über tief eingeschnittenen Schluchten standen und Menschen Steinkreise gelegt haben, als Zeichen gegen die Unendlichkeit dieser Landschaft. Plötzlich tauchte hinter einer Kurve das Grün der Gärten von Codpa auf, das erste Ziel auf unserer Fahrt zum Chungará-See an der Grenze zu Bolivien, auf 4.500 Meter Höhe.

Gegen die Abwanderung

Drei Tage lang folgen wir mit dem Auto einer Route, die zu abgelegenen Andendörfern und alten Lehmkirchen führt, durch eine ansonsten menschenleere Landschaft. Die chilenische Altiplano-Stiftung hat diese "Ruta de las Misiones" geschaffen, um eine von Abwanderung betroffene Region an der Grenze zu Peru und Bolivien zu beleben. Sie restauriert die vielerorts verfallenen Lehmkirchen, von denen aus die Aymara-Bevölkerung der Region einst missioniert wurde, und will so Reisende in Dörfer locken, in denen Einheimische Unterkünfte anbieten, regionale Speisen oder geführte Wanderungen. Es ist ein kleines, aber engagiertes Projekt in Chile, das der Verlag "Lonely Planet" gerade zum interessantesten Reiseziel des Jahres 2018 gekürt hat und das ebendann die 200-jährige Unabhängigkeit von Spanien feiern wird.

Eine der Kirchen, die bereits restauriert wurden, steht am höchsten Punkt des Dörfchens Guañacagua bei Codpa. Das barocke Portal des mit Stroh gedeckten Kirchenschiffs ist verziert mit den Reliefs von Sonne, Mond und einem Ch'ullo, der typischen Ohrenklappenmütze der Andenvölker. Ein weiß getünchter Glockenturm steht einige Meter vom Kirchenschiff entfernt. "In der traditionellen Vorstellung ist der Kirchturm der Phallus des Mannes, Frauen dürfen ihn nicht betreten, und die Kirche selbst wird als Mutter Erde gesehen", erklärt Israel Quispe, ein junger Architekt, der für die Altiplano-Stiftung bereits mehrere Kirchen restauriert hat und die Tour begleitet. "Die Kirche war immer das Herz der Gemeinschaft, hier feiern die Menschen ihre Feste und bewahren vorspanische Riten, die sie mit dem Katholizismus vermischt haben."

Altes Wissen vermitteln

In den vergangenen 15 Jahren hat die Altiplano-Stiftung mit finanzieller Unterstützung des chilenischen Staats bereits 14 Kirchen in traditioneller Lehmbauweise restauriert und gegen Erdbeben gesichert, weitere 18 sollen folgen. In einigen Dörfern werden zudem alte Wohnhäuser saniert. "Seit den 1960er-Jahren haben sich Zementblöcke und Zinkdächer durchgesetzt, was einen großen Verlust von Baukultur und Lebensqualität bedeutete, wir wollen das Wissen über die alten Bauweisen wieder vermitteln", sagt Quispe. In zehnmonatigen Kursen lernen Einheimische die Herstellung von Lehmziegeln, Lehmbau, Holzkonstruktion oder die Restaurierung von Heiligenfiguren.

Am Dorfrand von Codpa bereitet Olga Romero, eine herzliche Frau mit Kittelschürze, am nächsten Morgen das Frühstück über dem Kochfeuer zu. Eine buschige Chili-Pflanze mit knallroten Schoten wuchert vom Garten in ihre Außenküche. Es gibt in Fett gebackene Sopaipilla-Krapfen mit Orangenmarmelade, dazu frisch gepflückte Kaktusfrüchte und Avocados.

Stolz auf ihre Traditionen

Gäste können bei Olga Romero in einfachen Holzhütten übernachten und in ihrem Garten Feigen, Aprikosen, Guaven, Orangen oder Mangos ernten. Sie können zur restaurierten Kirche von Guañacagua wandern oder zu den Felszeichnungen von Ofragia, wo Menschen vor 2.500 Jahren Lamas, Jäger und Schamanen in den Stein geritzt haben. "Früher sind die Touristen nur durchgereist auf dem Weg nach Bolivien, aber seit die Kirchen und Häuser restauriert werden und touristische Angebote entstehen, bleiben viele auch über Nacht", sagt Olga Romero und reicht einen weiteren Sopaipilla-Krapfen. "Und die Einheimischen verspüren neuen Stolz auf ihre Traditionen."

Auch Olga Romero keltert den Pintatani, verkauft Saft und Marmeladen aus eigenen Früchten. Vor sechs Jahren ist sie aus der Stadt zurück in ihr Heimatdorf gekommen und hat den Garten ihrer Eltern übernommen, den sie alle 20 Tage für neun Stunden mit Wasser aus dem Dorfkanal bewässern darf. "Ich liebe es, aus den trockenen Bergen zu kommen, und plötzlich ist alles um mich herum grün", sagt sie und gibt uns zum Abschied Limonen mit – gegen die Kopfschmerzen in der Höhe.

In der Sonne verbrannt

Von Codpa aus schraubt sich die Straße in engen Kurven steil hinauf, wird bald zu einer staubigen Schotterpiste. Trockene Bachbette liegen zwischen Fels und Geröll, Disteln und Sträucher stehen neben vertrockneten Kakteen. Um die Mittagszeit erreichen wir das Dörfchen Belén, das auf etwa 3.200 Metern in einem Hochtal liegt. An einer Straßenecke trifft uns Marco Mollo, ein kleiner runder Mann mit Schlapphut, der Wanderungen und Ausritte anbietet, seit eine der beiden Dorfkirchen von Belén restauriert wird. Er geht voran durch Terrassenfelder, von denen die meisten nicht mehr bestellt werden, in ein Tal westlich von Belén. Verfallene Steinhäuser stehen neben dem Pfad. "Hier haben Heiden gelebt", sagt Mollo mit leiser Stimme. "Der Ort ist verhext, niemand bringt sein Vieh zum Grasen her."

Als Kind hat Mollo mit seinen Eltern in einer Höhle außerhalb von Codpa gelebt, sie haben Ziegen und Schafe gehütet, gekäst und sich Geschichten von diesen Menschen erzählt, die Aymara sprachen und ganz plötzlich verschwanden. "Sie bestellten ihre Felder nur bei Nacht, und als eine Sonnenfinsternis kam, gingen sie alle hinaus, weil sie dachten, es sei Nacht", erzählt er. "Doch dann kehrte die Sonne zurück und sie verbrannten alle in ihren Strahlen."

Heiliger Hügel

Am Ende des Tals klettern wir einen Hügel hinauf, über eingestürzte Steinwände hinweg, aus denen Kakteen wachsen. Hier befand sich einst eine befestigte Stadt, lange bevor die Europäer kamen. Die Hügelkuppe ist zu einer Plattform geebnet, die übersät ist mit Keramikscherben. "Hier haben sie Koka für Vater Sonne geopfert und Tiere für Pachamama", sagt Mollo. Rundum schauen wir in Täler, die keinen Schatten kennen und vom Menschen vor langer Zeit verlassen wurden.

In Belén schließt Victoria Mollo am Nachmittag die Holztür zur Kirche San Santiago auf, die von einem mit Blüten und Tieren verzierten Steinportal gerahmt ist. Sie trägt einen großen schwarzen Krempenhut, den sie nicht absetzt. Im kühlen Kirchenraum stehen dutzende mit bunten Stoffen geschmückte Heiligenfiguren. "Wir halten hier kaum noch Messen ab, der Priester kommt nur zu den Fiestas, uns wachsen schon langsam Hörner", sagt sie und kichert. Im Mai, erzählt sie, schmücken die Dorfbewohner die Kreuze der Kirche mit Blüten und Seidenschals und tragen sie hinauf auf den Hügel, der ihnen als heilig gilt.

Was das Dorf hergibt

Wie Olga Romero in Codpa ist auch Victoria Mollo aus der Stadt in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Sie hat ein altes Lehmhaus mit Unterstützung der Stiftung restauriert und ein Restaurant eröffnet. Jetzt kocht sie für Gäste, was ihr Garten und das Dorf hergeben – Quinoa, Mais, Ziegenkäse, Schaffleisch und Chuño-Kartoffeln, die sie haltbar macht, indem sie die Knollen zertritt und auf einem Strohbett acht Tage in Nachfrost und Sonne ausdörren lässt.

Am nächsten Morgen schenkt uns Victoria Mollo Kokatee ein, zum Warmbleiben in der Höhe, sagt sie. Es geht weiter hinauf in den Altiplano, Kurve um Kurve, vorbei an endlosen Ebenen, auf denen sich graugelbe Strohbüschel im Wind biegen, und in feuchte Hochtäler, in denen borstig-grünes Gras wächst. Die dünne kalte Luft brennt in der Lunge.

Ungastliche Welt

Dann irgendwann liegt er vor uns, der Chungará-See, das Ziel unserer Reise. Flamingos waten durch sein dunkelblaues Wasser, Chinchillas schauen neugierig hinter Steinen hervor. Am Horizont erheben sich die die schneeweißen Kegel der Zwillingsvulkane Parinacota und Pomerape und die gewaltige vereiste Kuppe des Sajama-Vulkans, eines Sechstausenders in Bolivien. Es ist ein erhebender Anblick. Wir haben die Reise 4.500 Meter weiter unten begonnen, jetzt pocht bei jedem Schritt die Höhe hinter den Schläfen.

Als die Sonne allmählich zu versinken beginnt, fegt ein eisiger Wind die letzte Wärme des Tages davon. Wir sind allein in dieser ungastlichen Welt. Gut, dass im nächsten Dorf jemand mit einem Kokatee auf uns wartet. (Mirco Lomoth, RONDO, 10.11.2017)