Volksabstimmungen sind in der Schweiz das dynamische Gegengewicht zu einem überaus statischen Regierungssystem.

Illustration: Felix Maria Grütsch

Foto: Felix Grütsch

Auf den ersten Blick sollte die direkte Demokratie bei den derzeitigen Koalitionsverhandlungen kein großes Problem darstellen. Denn beide Parteien sind sich einig, dass durch die direkte Mitwirkung der Bürger nach schweizerischem Muster die österreichische Demokratie gestärkt werden soll. Zwischen dem türkisen und dem blauen Konzept gibt es einige Unterschiede. Nach dem ÖVP-Ansatz kann eine verbindliche Volksabstimmung von zehn Prozent der wahlberechtigten Bürger (ca. 650.000) verlangt werden. Zwei Termine sollen jedes Jahr für derartige Abstimmungen reserviert werden. Auch ist eine verfassungsgerichtliche Überprüfung der Vereinbarkeit des Gegenstands der Volksabstimmung mit den Menschenrechten und mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Österreichs vorgesehen. Nach Aussagen freiheitlicher Politiker wird ein wesentlich niedrigeres Quorum angestrebt. Von Einschränkungen der Referendumsthemen ist nicht die Rede. Auch wird ein Veto-Referendum gegen bereits beschlossene Gesetze gefordert.

Zweifellos ist die Schweiz ein erfolgreiches Land, in dem die Institution der Volksabstimmung zur Identifikation der Bürger mit dem Staat beiträgt. Doch anders als Uhren und Schokolade ist direkte Demokratie kein Exportprodukt. Volksabstimmungen bilden in der Schweiz einen integralen Teil einer von Österreich grundlegend verschiedenen Staatsordnung. Die Regierung setzt sich aus allen wesentlichen Parteien zusammen. Es gibt keine Koalitionen, aber auch keine Opposition in unserem Sinn, und Parlamentswahlen bewirken kaum politische Änderungen. Zudem hat sich die direkte Demokratie in der Schweiz über viele Jahrhunderte auf Gemeinde- und Kantonsebene entwickelt, bis sie 1848 für die gesamte Eidgenossenschaft in die Verfassung aufgenommen wurde. Sie funktioniert, weil sie tief in der politischen Kultur verwurzelt ist. Bevor Schweizer Bürger zur Urne schreiten, lesen viele von ihnen dicke Broschüren und setzen sich eingehend mit der Materie auseinander. Scheinbar populäre Vorschläge wie zusätzliche Urlaubswochen werden oft abgelehnt.

Notwendiges Gegengewicht

Regelmäßige Volksabstimmungen sind in der Schweiz das notwendige dynamische Gegengewicht zu einem überaus statischen Regierungssystem. In Österreich dagegen können Wahlen zum Nationalrat tiefgehende politische Neuorientierungen bewirken. Da nur über die Atomkraft und den EU-Beitritt bisher auf gesamtstaatlicher Ebene abgestimmt und lediglich eine Volksbefragung über die Wehrpflicht durchgeführt wurde, sind Referenden in der österreichischen politischen Kultur kaum verankert. Ein radikaler Ausbau der direkten Demokratie passt daher nur schwer in die österreichische Staatsstruktur. Verfassungsordnungen haben ihre organisch gewachsene innere Logik. Man sollte sorgfältig mit ihnen umgehen und sie nicht nach Belieben mit Versatzstücken anderer Systeme kombinieren.

Die Schweiz ist ein Sonderfall und wird es wohl auch bleiben. Viele Verfassungen sehen plebiszitäre Elemente vor, aber in der Regel – so wie in Österreich – für Ausnahmefälle und unter restriktiven Bedingungen. Denn ohne die spezifischen Umstände der Schweiz weist direkte Demokratie erhebliche Risken auf. Das Brexit-Referendum ist das beste Beispiel, wie eine Abstimmungskampagne zu einem politischen Schaukampf degenerieren kann, in dem Sachargumente auf der Strecke bleiben. Faktisch sind nur Parteien, große Lobbys und Medien in der Lage, Volksabstimmungen zu lancieren. Interessen von benachteiligten Gruppen bleiben oft auf der Strecke. Immer wieder wird der Ausgang durch Faktoren bestimmt, die mit der gestellten Frage wenig zu tun haben. Und viele komplexe Sachverhalte erfordern einen sorgfältig verhandelten Interessenausgleich und lassen sich nur schlecht in eine Ja/Nein-Fragestellung zwängen.

Es ist auch kein Zufall, dass die Schweiz nicht Mitglied der EU ist. Denn direkte Demokratie steht in einem Spannungsverhältnis zur Mitwirkung an der europäischen Integration. Bisher hat es in den Mitgliedsstaaten 44 Referenden über EU-Fragen gegeben. Davon ging es 19-mal um den Beitritt des Landes, was angesichts der Tragweite der Entscheidung demokratiepolitisch sicher sinnvoll ist. Bei der Mehrheit der übrigen Referenden standen Änderungen des EU-Vertrages zur Entscheidung. Die in den letzten Jahrzehnten zunehmende Tendenz, Ratifikationen mit Referenden zu verbinden, macht aus der Vertragsreform eine Art russisches Roulette. Auch wenn wieder viel von EU-Reformen die Rede ist, werden die Regierungen daher auch weiter zögern, eine Reform des Lissabonner Vertrags in Angriff zu nehmen.

Viel problematischer sind anlassbezogene Referenden. 2016 führten die Niederlande aufgrund der Sammlung von über 300.000 Unterschriften ein Referendum über den Assoziationsvertrag mit der Ukraine durch. Die Beteiligung war niedrig, doch wurde die Schwelle von 30 Prozent knapp überschritten. Da die Gegner der Initiative zu Hause geblieben waren, lag zuletzt eine klare Mehrheit gegen den Vertrag vor. Erst nach mühsamen Verhandlungen mit den EU-Partnern entschloss sich die Regierung, entgegen dem Abstimmungsergebnis den Ukrainevertrag doch zu ratifizieren.

Das Beispiel illustriert die Spannung zwischen Demokratie auf nationaler und auf EU-Ebene. Aus nationaler Sicht war das niederländische Ergebnis regelgemäß zustande gekommen. Aber ist es demokratisch, wenn eine knappe Mehrheit in einem Mitgliedsland ein von den demokratisch legitimierten Regierungen und Parlamenten einer Union von 500 Millionen Bürgern beschlossenes Projekt blockieren kann?

Anti-EU-Kampagnen

Genau dieser Art von Initiativen würden die Vorschläge von ÖVP und FPÖ Tür und Tor öffnen. Natürlich könnte man EU-relevante Materien von derartigen Volksabstimmungen ausnehmen. Aber wünscht die ÖVP eine so weitreichende Einschränkung der direkten Demokratie und würden die FPÖ zustimmen? Die Versuchung, sich aus der Rolle des Juniorpartners in der Regierung zu befreien und mit der Boulevardpresse im Namen des Volkswillens Kampagnen gegen ungeliebte EU-Vorhaben zu lancieren, ist sicher groß. Jede Menge Themen würden sich anbieten vom Nettozahlerbeitrag, der Entschuldung Griechenlands über die EU-Asylpolitik bis zu Euratom. Der potenzielle Schaden für die österreichische Europapolitik wäre enorm.

Die Frage der konkreten Ausgestaltung der direkten Demokratie ist daher der eigentliche Lackmustest für den europäischen Kurs der zukünftigen Regierung, viel relevanter als der schönste Präambeltext. Sonst bleibt nur mehr die Hoffnung, dass die Opposition die Verfassungsmehrheit für eine derartige Selbstbeschädigung Österreichs verweigert. (Stefan Lehne, 10.11.2017)