Köln/Wien – Irgendwann kommt jeder einmal zu dem Schluss, dass früher alles besser war: Kinder spielten auf der Straße Räuber und Gendarm, bauten Baumhäuser – aus Brettern und Planen, nicht aus Minecraft-Würfeln -, stauten Bäche auf und kamen abends dreckig nach Hause. Heute verbringen Kinder einen großen Teil ihrer Zeit in Innenräumen und kommen mit der Natur kaum noch in Berührung. Das Bild mag überzeichnet sein, der Trend aber scheint eindeutig.

Seit 20 Jahren verfolgt der "Jugendreport Natur" das Verhältnis junger Menschen zur Natur. Für den 7. Report von 2016 wurden 1253 Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen sechs und neun in Nordrhein-Westfalen befragt. "Die Ergebnisse zeigen deutlich: Die Distanz zur Natur wird immer größer", sagt Rainer Brämer, Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Marburg und Initiator des "Jugendreports Natur".

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Ab in die Wildnis: Die Kenntnisse über Wald und Wiese nehmen rasant ab, ebenso wie der Drang, sich in der Natur auszutoben.
Foto: Picturedesk / Westend 61 / Retales Botijero

Verblüffend ist, dass auch grundlegendes Wissen verloren geht. So wussten nur 35 Prozent der Befragten, wo die Sonne aufgeht. Ein Fünftel kreuzte "Norden" an. 2010 hatten noch zwei Drittel der Teilnehmer die Frage richtig beantwortet.

Eine andere Frage lautetet zum Beispiel: "Nenne drei essbare Früchte, die bei uns im Wald oder am Waldrand wachsen." Nur zwölf Prozent lösten die Aufgabe richtig. Am häufigsten wurden Brombeeren, Himbeeren, Blaubeeren genannt. Mit großem Abstand folgten Nüsse, Bucheckern und Pilze. Unter den falschen Antworten dominierten zwar heimische Früchte wie Äpfel und Birnen, genannt wurden aber auch Bananen, Mangos und Ananas.

Land- versus Stadtkinder

Auch in Österreich ist der Trend feststellbar, wobei das Lebensumfeld eine Rolle spielt: "Wir haben 381 Kinder zwischen acht und zehn Jahren zum Thema Wald, Bäume und Jagd befragt", sagt Ulrike Pröbstl-Haider von der Universität für Bodenkultur Wien. "Die befragten Kinder aus ländlichen Räumen hatten durchwegs bessere Kenntnisse zu Bäumen als die Stadtkinder aus Innsbruck. Eine Entfremdung konnte bei den Stadtkindern auch bei anderen Fragen beobachtet werden: Für 25,9 Prozent der Landkinder liefert der Wald auch Nahrung, davon waren nur 6,1 Prozent der Stadtkinder überzeugt."

Generell wird das Phänomen Naturentfremdung im deutschsprachigen Raum aber wenig wahrgenommen: "Weder Psychologie noch Soziologie oder Naturwissenschaften fühlen sich für die Erforschung der Rolle der Natur im Alltag verantwortlich", sagt der Natursoziologe Brämer. In Amerika und England hingegen gibt es ein wachsendes Bewusstsein für das Thema und bereits eine griffige Bezeichnung für das Phänomen: "Nature Deficit Disorder".

Achtjährige, stellte eine Studie aus England fest, können zwar 78 Prozent aller Pokémon-Charaktere unterscheiden aber nur 53 Prozent der gewöhnlichen britischen Tierarten. "Schon die Elterngeneration hat wichtige Verbindungen zu unserem arteigenen Biotop verloren und kann sie daher auch nicht mehr für ihren Nachwuchs knüpfen", sagt Brämer.

Naturbegriffe verschwinden

Die Entwicklung macht sich auch in unserer Kommunikationskultur bemerkbar, denn Naturbegriffe verschwinden auch aus Songtexten, Romanen und Filmen, wie eine im März erschienene Studie feststellte. 6000 Liedtexte und ebenso viele Romane und Drehbücher hatten zwei Psychologinnen dafür durchsucht. Ihr Ergebnis: Seit den 1950er-Jahren gehen Vogel-, Baum-, und Blumennamen und andere Naturbegriffe wie Sonnenuntergang aus unserem Sprachgebrauch verloren.

Zum Teil ist das gar eine bewusste Entscheidung: Als 2015 die Jugendausgabe des Oxford Dictionary neu aufgelegt wurde, protestierten namhafte britische Autoren gegen die Wortauswahl: Begriffe wie Kanarienvogel, Grasland und Brombeere (engl. blackberry) waren aus dem Jugendlexikon gestrichen worden, um Wörtern wie Blog, Voicemail und Blackberry (Smartphonemarke) Platz zu machen – für die beiden Psychologinnen ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Mensch den Kontakt zur Natur verliert. Die Ursache sei der technische Fortschritt, vor allem die Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten zu Hause, also Fernsehen, Internet und Videospiele.

Spielen in virtuellen Räumen

Eine naheliegende Erklärung, wenn man sich den Medienkonsum Jugendlicher anschaut. Im "Jugendreport Natur" gab mehr als die Hälfte der jungen Generation an, mindestens drei Stunden pro Tag vor Bildschirmen zu verbringen. Die Zahlen decken sich mit Erhebungen aus England, wonach Jugendliche bis zu 17 Stunden pro Woche fernsehen und 20 Stunden online verbringen. "Die Spiele bieten eine unendliche Fülle an Herausforderungen und Bewährungsmöglichkeiten in einem ähnlich wie früher in der Natur weitgehend unkontrollierten Raum. Die Natur hält mit der hohen Reizdichte dieser Spiele nicht mit und erscheint langweilig", so Brämer.

Neben den Verlockungen der virtuellen Welten existieren noch weitere Gründe für die zunehmende Entfremdung: 75 Prozent der Bevölkerung in den Industriestaaten leben in Städten, ein Trend, der sich in den nächsten Jahrzehnten weltweit verstärken wird. Und wer in der Stadt aufwächst, hat selten die Möglichkeit, Baumhütten zu bauen und Tiere zu beobachten.

Die Frage ist, kann man die Naturentfremdung hinnehmen, oder sollte man ihr entgegenwirken? Schon länger beklagen Biologen und Naturschützer das abnehmende Interesse an der belebten Umwelt. Eine Allensbach-Umfrage im Auftrag der Deutschen Wildtierstiftung von 2016 unter mehr als 1400 Bundesbürgern aller Altersgruppen bestätigt den Eindruck: Bei der Frage "Wo sollte man sich auskennen?" rangieren Rechtschreibung (81 Prozent), Gesundheitsvorsorge (52 Prozent) und der Umgang mit Computern (46 Prozent) weit vor Kenntnissen der Natur (25 Prozent).

Folgen der Entfremdung

Die Folgen dieser Entfremdung können beträchtlich sein: Wer seine Freizeit ausschließlich in virtuellen Räumen verbringt, gefährdet seine Gesundheit. Zahlreiche Studien belegen, dass der Aufenthalt im Grünen zum Wohlbefinden beiträgt: Blutdruck und Puls sinken, ebenso der Cortisolgehalt im Blut – man entspannt. In Japan etwa gehört das "forest bathing", Spaziergänge im Wald, zu einem gesunden Lebensstil.

Wie also den Trend umkehren? "Studien zeigen, dass Ausflüge und Exkursionen lange nachwirken. Der Kontakt zur Natur muss hergestellt werden, damit Kinder dort Erfahrungen machen können", sagt Pröbstl-Haider. Auch Brämer plädiert für einen lebensnahen Naturunterricht in Schulen, Jugendwaldheimen und Bauernhöfen und generell für mehr Aufenthalte im Wald – allerdings unbeaufsichtigt und mit Gleichaltrigen. Damit sie, wie ihre Eltern und Großeltern vor ihnen, eines Tages sagen können, dass Naturerlebnisse ihrer Kindheit zu ihren schönsten Erinnerungen zählen. (Juliette Irmer, 11.11.2017)