Die Werte von Christian Kern haben sich zwischen Juni und Oktober kaum verändert.

Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Die Nationalratswahl 2017 ist längst geschlagen. Dennoch lohnt es sich, mit der Weisheit des Rückblicks einige Annahmen zu hinterfragen, auf denen die öffentliche Debatte im Wahlkampf beruht hat. Das medial dominante Ereignis im Wahlkampfendspurt war ohne Zweifel die Affäre um Tal Silberstein, die Ende September bekannt wurde.

Die Reaktionen der politischen Kommentatoren auf die Causa waren einhellig: ein "Super-GAU" für die SPÖ, der Schaden sei "maximal", ein Stimmenabfluss Richtung Grüne und Liste Pilz möglich, dazu noch drohende Demobilisierung der eigenen Anhänger und so weiter und so fort.

All diese Kommentare gingen (meist unausgesprochen) von der Annahme aus, dass durch einen derartigen Skandal und die darauffolgende negative Berichterstattung entweder Stimmen von der SPÖ zu anderen Parteien abwandern müssten oder die Wahlbeteiligung von SPÖ-Sympathisanten sinken würde.

Vier Befragungswellen

Diese Annahme ergibt intuitiv durchaus Sinn. Ob sie aber zutrifft, ist eine empirische Frage, die wir mithilfe der Daten aus dem Autnes-Online-Panel beantworten können. Anders als in gewöhnlichen Umfragen werden in Panelstudien dieselben Personen wiederholt befragt. So kann auf Individualebene nachvollzogen werden, wie sich das Meinungsbild im Zeitverlauf ändert.

Konkret wurden vor der Wahl vier Befragungswellen durchgeführt, wobei die Silberstein-Affäre zwischen Welle 3 und 4 öffentlich bekannt wurde. Sollte die Skandal-kostet-Stimmen-Theorie zutreffen, müsste sich das Meinungsbild für die SPÖ in Welle 4 also merkbar verschlechtern. Drei Indikatoren wurden ausgewählt, allesamt auf einer Skala von 0 bis 10 abgefragt:

  • die Sympathie für Christian Kern
  • die Wahrscheinlichkeit, die SPÖ zu wählen
  • die Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme (beschränkt auf Personen, die zumindest einmal in den vier Wellen eine SPÖ-Wahlwahrscheinlichkeit größer als 5 angeben)

Dargestellt werden in der Grafik Mittelwerte pro Befragungswelle. In der Auswertung sind nur Personen, die in allen vier Wellen gültige Antworten gaben, enthalten. Anzahl und Identität der Befragten sind demnach für jeden Indikator über die Zeit konstant. Wie unschwer zu erkennen ist, gibt es zwischen Juni und Oktober kaum Bewegung. Die Werte für Christian Kern und die SPÖ sind im Zeitverlauf praktisch unverändert. Die Teilnahmewahrscheinlichkeit unter SPÖ-Sympathisanten steigt sogar leicht an (was dem Trend in der Stichprobe insgesamt entspricht und für Wahlkampagnen typisch ist).

Kein Schreckensszenario

Diese Daten legen nahe, dass die grundlegende Annahme vieler Politikkommentatoren (Skandale kosten Wählerstimmen) zumindest in diesem Fall falsch war. Das von den Experten heraufbeschworene Schreckensszenario für die SPÖ trat nicht ein. Natürlich könnte man einwenden, die SPÖ hätte ohne die Silberstein-Affäre noch besser abschneiden können. Doch viele Kommentatoren erwarteten eindeutig eine Verschlechterung der Meinungslage für die SPÖ gegenüber dem Status quo.

Die Silberstein-Episode macht deutlich, dass Expertise ohne Empirie oft wenig verlässlich ist (das schließt den Autor dieser Zeilen mit ein). Das Wahlverhalten ist zwar nicht zufällig, aber es gehorcht auch keiner simplen Mechanik. Gegenüber Vorhersagen ohne empirische Evidenz sollten wir daher Skepsis walten lassen. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 14.11.2017)