Gleichschaltung ist Teil des staatlichen Manipulationssystems in George Orwells "1984" (Volkstheater-Ensemble).

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Hermann Schmidt-Rahmer, 1960 in Düsseldorf geboren, ist Regisseur, Schauspieler und Bühnenmusiker und für seine politisch engagierte Theaterkunst bekannt (u. a. mit Stücken Elfriede Jelineks). Am Volkstheater gibt er mit "1984" jetzt sein Wiener Regiedebüt.

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STANDARD: Donald Trumps Wahlsieg ließ die Verkaufszahlen von George Orwells "1984" in den USA die Höhe schnellen. Warum? Welche Dystopien des Romans löst Trump heute denn ein?

Schmidt-Rahmer: Ich denke, es ist die Art und Weise, wie er die Wirklichkeit mittels Sprache manipuliert. Es sind die Chuzpe und die Konsequenz, mit denen Trump faktische Realität einfach negiert und durch immer neue Wiederholungen ein Diskursklima schafft, in dem es keine Sicherheit über Faktizität mehr gibt.

STANDARD: Also die Weiterführung von "Neusprech", dem manipulierenden Sprachdiktat im Roman?

Schmidt-Rahmer: Neusprech bzw. die Versimplifizierung von Sprache ist nur ein Aspekt. Trump bestritt ja mit einem 400 Begriffe umfassenden Wortschatz ganze Wahlkampfreden! Bei ihm gibt es nur "loser" und "winner", "bad" oder "tremendous". Wenn ich die Welt auf das reduziere, dann ist das die brutale Reduktion von Denkmöglichkeiten. Mich interessiert aber auch die Manipulation von Wahrnehmung, also die Tatsache, dass man unverschämt lügt und am nächsten Tag das Gegenteil behauptet – und es gilt! Das ist reine Machtdemonstration. Zuerst war China des Teufels, heute bezeichnet Trump es als besten Freund. Bei Orwell heißt das "Zwei und zwei ist fünf". Es geht bei Trump um die brachiale Vernichtung des gemeinsamen Vertrauens darauf, dass es Fakten und eine Wirklichkeit gibt: Wirklichkeit ist bei ihm ein Objekt des Wahrnehmungsmanagements. Die Wirklichkeit in Amerika erodiert, hat ein Journalist geschrieben.

STANDARD: Die Wirklichkeit erodiert auch durch unsere irren technologischen Standards. "1984" ist eine Geschichte ohne Smartphone, auch die Bühnenfassung von Alan Lyddiard, mit der Sie arbeiten, kommt ohne eines aus. Droht da nicht die Science-Fiction-Patina?

Schmidt-Rahmer: Und wie. Es ist wirklich schwierig. Orwell ist unendlich visionär gewesen, was die Wirklichkeitsmanipulation betrifft, aber natürlich den Unterdrückungsmechanismen von 1948 verhaftet. Die Tatsache, dass wir das heute alles freiwillig leisten, ja dass wir die totale Überwachung sogar als Wohltat empfinden, das konnte er nicht voraussehen. Deshalb ist die Übertragung des Settings in ein Heute sehr schwierig. Dazu müsste man die Rechte haben.

STANDARD: Eine Neufassung scheitert an der Rechtefrage?

Schmidt-Rahmer: Die angloamerikanische Verlagslandschaft ist eher streng. Also die Freiheiten, die man bei Shakespeare hat, sind definitiv größer.

STANDARD: Warum begeben wir uns mit offenen Armen in den Zustand des Überwachtwerdens?

Schmidt-Rahmer: Die verführerische Macht der Möglichkeiten von Smartphone und Bi g Data wiegen jede Angst um Längen auf. Das Handy ist eine Wundertüte, es trägt dutzende Geräte in sich: Es ist ein Telefon, aber auch eine Videothek, ein Fernseher, ein Fotoapparat und eine ganze Enzyklopädie. Die größte Drohung, die wir sehen, ist, dass unsere Daten personalisiert werden und wir personalisierte Werbung bekommen. Ja, da sage ich: So what! Ist mir doch egal!

STANDARD: Das erscheint manchmal sogar hilfreich.

Schmidt-Rahmer: Genau. Was wir aber nicht kapieren, ist das, was gerade in China passiert. In Schanghai werden derzeit sämtliche Datenspuren, die ein Handy hinterlässt, nicht an Konzerne verkauft, sondern an ein Ministerium, welches übrigens ursprünglich Ministerium für Ehrlichkeit hieß ...

STANDARD: So wie das "Wahrheitsministerium" in Orwells Roman?

Schmidt-Rahmer: Ja, die App heißt "Ehrliches Schanghai". Fehlverhalten wie falsch parken, regierungskritische Websites besuchen, Rechnungen nicht bezahlen, sich an Orten aufhalten, wo Kriminalität herrscht usw. – all das bemisst den individuellen sozialen Wert einer Person, auch positive Dinge natürlich. Das Rating stellt einen digitalen Pranger dar, und jeder sieht, ob du ein nützliches Mitglied der Gesellschaft bist. Und es wird sanktioniert. Wenn du unter eine gewisse Linie fällst, wird beispielsweise dein Bewegungsradius eingeschränkt, und du darfst keine Fernzüge mehr benützen oder bekommst Schwierigkeiten beim Mietvertrag usw. Das ist George Orwell pur.

STANDARD: Wenn Sie nun selbst Science-Fiction-mäßig weiterfantasieren: Wo soll das hinführen?

Schmidt-Rahmer: Wenn das Modell Schanghai Schule macht, ist der faschistoid-totalitäre Überwachungsstaat errichtet.

STANDARD: Auch für nur durchschnittlich versmartete Menschen ist es heute kaum noch möglich, keine Spuren zu hinterlassen. Bankomatkarte, Bürochip ... Man müsste in den Wald ziehen!

Schmidt-Rahmer: Der Aussteigerstatus markiert einen allerdings auch als verdächtig. Dave Eggers' Roman The Circle wäre in dieser Hinsicht die konsequente Fortschreibung von 1984, die Rechte liegen in Hollywood, keine Chance auf eine Dramatisierung.

STANDARD: Sie wollen in Ihrer Inszenierung am Volkstheater weglenken von der depressiven Grundstimmung der frühen Science-Fiction. Wird es witzig werden?

Schmidt-Rahmer: Ich sehe schon einiges Ironiepotenzial. Auf den Grauschleier der Verfilmungen werden wir verzichten. Wir leben ja in einer Unterhaltungs- und Bespaßungsgesellschaft. Winston, die Hauptfigur, ist bei uns nicht der Schmerzensmann, sondern hat eher etwas von einem dummen August. Die Sprache bleibt aber brutal.

STANDARD: Ihre Arbeit wird oft als "Polittheater" beschrieben, zugleich verweigern Sie sich einer Message. Ein Widerspruch?

Schmidt-Rahmer: Nein, gar nicht. Das Theater hat ja nicht die Aufgabe, Meinungen zu verkünden, sondern im besten Fall Konflikte so zu schärfen, dass das Publikum in einem Widerspruch gefangen ist und sich selbst eine Meinung bilden muss. Allzu oft hat das Theater ja das Problem, vor Bekehrten zu predigen. (Margarete Affenzeller, 15.11.2017)