Der Kunsttherapieraum von Hemayat.

Foto: Katharina Gossow

Wien – Die Wände des Kunsttherapieraums von Hemayat sind bemalt, auf dem Tisch stehen unzählige Wasser- und Acrylfarben. Über tausend Klienten behandelt Hemayat, das Wiener Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende, in seinen acht Therapieräumen jährlich. Neben Psychotherapie wird etwa auch Kunst- und Bewegungstherapie angeboten, erzählt Geschäftsführerin Cecilia Heiss bei einem Besuch des STANDARD.

Menschen, die zu Hemayat kommen, leiden vor allem an posttraumatischen Belastungsstörungen, das sind verzögerte psychische Reaktionen auf ein extrem belastendes Ereignis. "Wir haben zum Beispiel Patienten, die sich nachts nicht ausziehen können und voll bekleidet im Bett liegen." Diese seien in der Nacht verschleppt worden und würden an der Demütigung, unbekleidet entführt worden zu sein, leiden. "Sie denken, dass sie beim nächsten Mal gewappnet sein müssen." Typische Symptome seien auch Schlaflosigkeit oder starke Schmerzen.

Zusammenbruch bei Ankunft

Cecilia Heiss arbeitet seit 2008 bei Hemayat, die Wände in ihrem Büro schmücken Kinderzeichnungen. Sie weiß, dass psychische Erkrankungen Geflüchteter oft erst durch die Ankunft in Österreich ausgelöst werden." Es gibt viele Menschen, die sich lange gut halten, aber bei der Ankunft völlig zusammenbrechen, zum Beispiel wenn ihnen im Interview unterstellt wird, dass sie lügen, während sie über die traumatischen Erlebnisse berichten, oder wenn jemand in Schubhaft kommt, der im Herkunftsland im Gefängnis gefoltert wurde." Viele posttraumatische Erkrankungen würden auch durch die lange Unsicherheit, die die Asylverfahren mit sich bringen, getriggert.

Psychosoziale Hilfe auf dem Fluchtweg

Bei einer von Ärzte ohne Grenzen organisierten Podiumsdiskussion am Donnerstagabend sprachen Hemayat-Gründungsmitglied Barbara Preitler, der Soziologe Kenan Güngör und Mario Thaler, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Österreich, unter anderem über Flucht und Ankommen als Auslöser für seelische Erkrankungen. Was Menschen nach der Ankunft in Österreich vor allem bräuchten, sei ein Gefühl der Sicherheit, sagte Preitler.

Ärzte ohne Grenzen unterstützt Hemayat seit 2016 finanziell. Mario Thaler sprach von einem "kläglichen Versagen der europäischen Politik in Griechenland", wo die NGO seit 2015 tätig ist und auch psychosoziale Unterstützung anbietet. Auf Lesbos beispielsweise würden durchschnittlich sechs Menschen pro Woche wegen Suizidversuchen oder Selbstverletzung dringend Hilfe brauchen, 20 Prozent der Menschen im Programm von Ärzte ohne Grenzen seien Opfer sexueller Gewalt geworden, und 25 Prozent hätten Folter erlebt. Viele Geflüchtete würden erzählen, dass ihnen Gewalt auf den griechischen Inseln, aber auch in Bulgarien, Serbien und Ungarn durch die staatlichen Behörden widerfahren sei. Auch Kinder seien davon betroffen, sagte Thaler.

Keine Therapien in der Muttersprache

Die Flucht als Traumaereignis werde immer bedeutsamer, sagt auch Heiss. Sie erzählt von einem Kind, dessen Vater während der Flucht über das Mittelmeer auf einem Boot ohnmächtig geworden sei. Der Bub habe danach seine Eltern nicht mehr loslassen wollen und sei deswegen beim Schulbesuch panisch geworden.

Ein neuer Raum für Hemayat. Durch die Unterstützung von Ärzte ohne Grenzen konnte der Verein zwei neue Therapieräume einrichten.
Foto: Katharina Gossow

Für Geflüchtete gibt es in Österreich nur eingeschränkte Möglichkeiten, eine Therapie zu machen. Laut Cecilia Heiss gibt es weder in den Krankenhäusern noch in den Ambulatorien Wiens Dolmetscher, die bei einer Psychotherapie übersetzen könnten. Es sei generell im Gesundheitswesen schwer, ohne Deutschkenntnisse richtig behandelt zu werden – in der Psychotherapie sei die Lage "katastrophal. Wir erleben immer wieder, dass schwer kranke Menschen aus Spitälern entlassen werden, weil es kein fremdsprachiges therapeutisches Angebot gibt." So liegt die Aufgabe, Folter und Kriegsopfer zu behandeln, bei privaten Organisationen wie Hemayat. Der Verein ist Teil von NIPE, einem österreichweiten Netzwerk für interkulturelle Psychotherapie.

2016 betreute Hemayat 1.044 Personen, die Zahl sei 2017 höher, würde aber erst zu Jahresende feststehen. Der Verein bietet kostenlose Therapie an. Finanziert wird sie zu 50 Prozent über private Spenden. Die Krankenkasse übernimmt 21,80 Euro pro Einheit. Durchschnittlich kostet eine Einheit in Wien etwa 100 Euro. Auch eine Reihe staatlicher Institutionen unterstützt Hemayat. Derzeit dauert es bis zu drei Monate, bis ein Erstgespräch stattfinden kann. Obwohl die Therapiestunden seit dem Vorjahr um 44 Prozent aufgestockt werden konnten, stehen 439 Personen auf der Warteliste. Von diesen sind 74 minderjährig, sagt Heiss.

"Erstaunlich, dass wir keinen Kassenvertrag haben"

Es gibt laut Heiss keinen niedergelassenen Arzt, der für Geflüchtete eine Therapie mit Dolmetscher anbieten würde. "Es ist erstaunlich, dass wir keinen Kassenvertrag haben." Dolmetscher brauche es auch, um Kindern, die häufig schon vor den Eltern Deutsch lernen, die Last des Übersetzens im medizinischen Bereich abzunehmen. Heiss kennt Fälle, in denen Buben, ihrer Mutter eine Krebsdiagnose übersetzen mussten. Dem Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) zufolge nimmt der Großteil der Patienten ohne ausreichende Sprachkenntnisse Angehörige zum Arzt mit. Krankenhauseigene Dolmetscher gebe es nicht.

Wie viele Schutzsuchende in Österreich therapiebedürftig sind, lässt sich nicht sagen. Eine Anfrage des STANDARD beim Innenministerium, beim Gesundheitsministerium und beim Österreichischen Integrationsfonds ergab, dass keine dieser Institutionen Zahlen über die psychische Gesundheit von Schutzsuchenden erhebt. Auch die Häufigkeit von Suizid und Suizidversuchen von Asylwerbern in staatlichen Quartieren wird nicht statistisch erfasst.

Gewaltprävention

Für die Gesellschaft sei es wünschenswert, dass "Leute nicht im traumatisierten Zustand unbetreut herumlaufen", sagt Psychologin Heiss. Eine Behandlung sei auch für die Gewaltprävention wichtig. Auch der Radikalisierung aus Kriegsgebieten Geflüchteter könne durch rechtzeitige Therapie vorgebeugt werden. Eine Behandlung sei häufig auch für die Kinder von Kriegs- und Folteropfern nötig. Aus der Holocaustforschung wisse man, dass Traumata an die nächste Generation weitergegeben werden können, wenn sie im Leben der Eltern sehr stark präsent sind, erklärt Heiss.

Die Wahrscheinlichkeit, an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erkranken, sei nicht für alle ethnischen Gruppen gleich hoch. Die Zahl traumatischer Ereignisse, die erlebt wurden, sei maßgeblich. Daher waren Menschen aus Tschetschenien lange die größte Gruppe unter den Klienten von Hemayat. Mittlerweile seien es Menschen aus Afghanistan, wo "andauernder Krieg" herrsche, sagt Heiss. (Anastasia Hammerschmied, 18.11.2017)