Rainer Galke, Birgit Stöger und Katharina Klar (v.l.n.r.) in "1984".

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Wien – Von Sowjetdiktator Josef Stalin, dem "verdienten Massenmörder des Volkes" (Bertolt Brecht), ist nicht überliefert, dass er besonders gerne und ausdauernd getwittert hätte. Außer Streit steht hingegen, dass seine väterliche Erscheinung für die Gestalt des "Großen Bruders" in dem Roman "1984" Pate gestanden hat. "Big Brother" sieht uns alle. Das Schlimme an US-Präsident Donald Trump ist unter anderem dessen Neigung, die Welt mit verbalen Kraftmeiereien auf dem Niveau eines Vorschulkindes vollzuzwitschern. Der postmoderne Triumphzug der Überwachungskamera tut ein Übriges, die totalitären Häscher von einst als technologische Waisenknaben zu erweisen.

Unzweifelhaft kommt der Totalitarismus rund 70 Jahre nach George Orwells trostlosem Befund auf Samtpfoten daher. Und ist doch beispiellos grobschlächtig und vulgär. So muss sich auch das Wiener Volkstheater genau überlegen, was es mit einer Dramatisierung von "1984" darzutun wünscht. Die Kräfte der Repression haben sich in unseren Breiten in solche der nachdrücklichen Überredung verwandelt. Der Populismus erzeugt Heilsgestalten, die die sozial Gekränkten vertreten und doch zugleich das große Ganze verraten, indem sie es nur noch als Witz abbilden.

Schminkmeister und Perückenmacher am Wort

Im Volkstheater haben die Schminkmeister und Perückenmacher das Wort. Eine Verlautbarungskraft der Diktatur von Ozeanien (Steffi Krautz) erläutert in einer ersten "Lektion" sehr überzeugend das Prinzip von "Doppeldenk". George Orwells kluge Parodie auf den Dialektischen Materialismus gibt die Tonlage vor. Es ist gar nicht so wichtig, dass Meinungen einander diametral widersprechen. Man muss nur lernen, beiden zugleich Glauben schenken zu können.

Krautz hat, wie die sechs anderen Ensemblemitglieder auch, die Frisur des nordkoreanischen Potentaten Kim Jong-un verpasst bekommen. Diese Rache des entwickelten Kommunismus an den international gültigen Regeln der Haarschneidekunst bringt das Doppeldenk-Prinzip recht simpel zum Ausdruck. Amerika und Ostasien? Ist alles eins, wenn man ans Haupthaar (Kim, Trump) denkt.

Verständigungsvorteile durch Wortschatzverknappung

Winston Smith, der karge, erschütternde Held von "1984", ist ein reizender Schussel. Rainer Galke (Smith) steckt wie alle anderen im sandfarbenen Freizeitanzug. Sein Hass auf den "Großen Bruder" reicht gerade so weit, um in der Unheimlichkeit einer mausgrauen Wohnzelle ein paar Zeilen in ein rosa Mädchentagebuch schreiben zu wollen. Doch man kommt zu gar nichts in Ozeanien. Dafür ist man aufgeweckter Stimmung, löffelt Kantinenfraß und ergeht sich in Echos über die Verständigungsvorteile durch planmäßig angebahnte Wortschatzverknappung. Superplusgut!

Währenddessen strapaziert Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer ausgiebig die Fähigkeit zur Analogiebildung. Man sieht die traurig schüttere Menschenmenge aus Anlass von Donald Trumps Inauguration in Washington über den Schirm flimmern (Ausstattung: Thilo Reuther). Die Schaffung "alternativer Fakten" eint Orwells Unterdrücker mit den dreisten Verlautbarungsartisten des Weißen Hauses. Allein schon deshalb spricht man in dieser trostlos schmalspurig gedachten Inszenierung vom "Großen Präsidenten", wenn man doch bloß den "Bruder" meint. Unterschlagen wird der Skandal des Konformismus, der Mitmachbereitschaft ganz ohne Androhung physischer Gewalt.

Knusperhäuschen als Absteige

So spielt man – kaum hat das Reizthema Trump einmal Pause – den Orwell-Text vom stark vergilbten Blatt. Winstons Romanze mit der katzengleichen Julia (Katharina Klar) wird mit einem postmodernen Knusperhäuschen als Absteige illustriert. Die Handkamera, dieses Dopingmittel aus der Frank Castorf‘schen Rüstkammer, trägt alle mimischen Regungen extra dick auf.

Wir erinnern uns aus dem Englischunterricht: Winston verguckt sich in einen vermeintlich vertrauenswürdigen Vertreter der Nomenklatura (Birgit Stöger als ozeanischer Nosferatu) und macht ihn zum Mitwisser seiner Subversion. Am langen Band der Duldsamkeit spazieren geführt, landet Winston Smith ("Nummer 6079") schließlich in den Folterkellern der Einheitspartei. Im Volkstheater hat man OP-Tische installiert. Weiß gewandete Lobotomie-Experten treiben den weinerlichen Smith mit besonders fiesen Foltermethoden in den Wahnsinn. Erinnerung wird abgeschafft. Sie schießen ihm u.a. Cocktailtomaten in den Mund. Sie applizieren ihm weiße Linsen auf die Augäpfel.

Irgendwann wird jeder Widerstand zwecklos. Winston glaubt tatsächlich, fünf Finger zu sehen, obwohl ihm nur vier gezeigt werden. Das Wiener Volkstheater glaubt ja auch, dass ein paar Wirklichkeitszitate aus Übersee und etwas "Neusprech" zusammen eine zeitgenössische Interpretation von "1984" ergeben. Beide behalten Unrecht. Das Publikum applaudierte steinern. (Ronald Pohl, 18.11.2017)