Nicht nur die dramatische Ergebnislosigkeit der Bemühungen um eine "schwarz-gelb-grüne" Koalitionsregierung in Deutschland, sondern auch die verworrene politische Lage in Italien mit dem noch vor kurzem unvorstellbaren erfolgreichen Wiederauftreten des 81-jährigen Silvio Berlusconi und die chaotischen Zustände bei den regierenden Konservativen in Großbritannien bestätigen die bei vielen Umfragen ausgedrückte Sehnsucht der Menschen nach Führungskraft, nach Politikern mit Charisma.

Gefährliches Charisma

Was ist Charisma? Eine Gnadengabe, eine "als außeralltäglich (...) geltende Qualität einer Persönlichkeit (...), um derentwillen sie als mit übernatürlichen und übermenschlichen Kräften oder Eigenschaften begabt (...) und deshalb als Führer gewertet wird" (Max Weber). Der Anspruch auf Führerschaft und bedingungslose Gefolgschaft prägten die Herrschaft der charismatischen Diktatoren wie Hitler und Stalin, Lenin und Mao. Deshalb gilt Charisma auch als gefährlich. Zu Recht wies aber der deutsche Historiker Wolfgang Mommsen auf den Unterschied zwischen "echtem demokratischen Charisma, das sich positive Weiterverwirklichung im Dienste der Gesamtheit zum Ziele setzt, und jenem falschen Charisma, das durch den Appell an die niederen Instinkte und Emotionen der Massen den Volkswillen korrumpiert und zum Hebel benützt, um eine Gewaltherrschaft auszurichten".

Ohne die Gefahr der Verführung zum autoritären Führerstaat zu unterschätzen oder die häufige Verwechslung von Charisma mit Inszenierung zu vergessen, soll man jedoch die Feststellung des Philosophen Jürgen Habermas beachten, dass es "außerordentliche Situationen gibt, in denen die Wahrnehmungsfähigkeit und die Fantasie, der Mut und die Verantwortungsbereitschaft des handelnden Personals für den Fortgang der Dinge einen Unterschied machen". Dass in einer lebendigen Demokratie die Strahlkraft und die Ausstrahlung, Visionen und Rhetorik zu einem demokratischen Begriff von Charisma gehören, hat der Erfolg Emmanuel Macrons mit "La République en Marche!" bewiesen.

Aufstieg und Fall

Nach seiner großen Rede mit dem Ruf zur "Neugründung Europas" schrieb der Spiegel mit unverhohlenem Neid: "Frankreichs Präsident hat in eineinhalb Stunden Redezeit mehr Vorschläge für Europas Gegenwart und Zukunft gemacht als Angela Merkel in zwölf Jahren". Der plötzliche Aufstieg und der ebenso schnelle Absturz der britischen Regierungschefin Theresa May und des SDP-Kanzlerkandidaten Martin Schulz sind allerdings die jüngsten Beispiele dafür, dass die Helden der Politik auch schnell verglühen können.

Das Charisma, die Wirkmacht von Politikern, muss sich durch Erfolge bewähren. Auch solche Gegenpole wie Bruno Kreisky, Willy Brandt und Helmut Kohl haben das in ihren besten Jahren bewiesen. Der Soziologe Ulrich Beck kritisierte bereits vor vier Jahren Angela Merkels Politik des Machterhalts, ihre "Neigung zum Nicht-Handeln, Noch-nicht-Handeln, SpäterHandeln, zum Zögern".

Nach dem Rückschlag bei der Wahl und dem Scheitern des Jamaika-Experiments ist offensichtlich, dass die Kanzlerin, wie vor ihr so viele, den richtigen Zeitpunkt für den Abgang mit Würde verfehlt hat. (Paul Lendvai, 20.11.2017)