Wien – Man kennt Victor Hugo als Schriftsteller, klar. Weltberühmt sind Romane wie Les Misérables oder Der Glöckner von Notre Dame. Weniger bekannt ist dagegen, dass der Franzose auch bildender Künstler war. Rund 4000 Aquarelle und Lavierungen schuf er, allerdings ohne damit an eine breite Öffentlichkeit zu treten. Wiewohl Zeitgenossen wie Charles Baudelaire sein bildnerisches Schaffen schätzten, nahm Hugo zeitlebens nicht an Ausstellungen teil, bezeichnete seine Bilder einmal als bloßen "Zeitvertreib zwischen zwei Strophen".
Von "Understatement" spricht da Ivan Ristic, Kurator einer kleinen, aber feinen Ausstellung im Wiener Leopold-Museum, die nun dieses Nebenkapitel der Kunstgeschichte anrührt. Victor Hugo – Der schwarze Romantiker versammelt rund 60 Blätter, die einen geheimnisvollen, feinsinnigen Kosmos in Schwarz und Brauntönen eröffnen. Darstellungen nächtlicher Meeres- und Flusslandschaften, die etwa im Exil auf den Kanalinseln entstanden, aber auch Bilder mittelalterlicher Burgen ziehen das geneigte Herz in ihre trübe, schöne Tiefe. Ja mei, Romantik eben, denkt man sich.
Irritierend aus der Zeit gefallen
Und dann sind da plötzlich diese Bilder, die irritierend aus der Zeit gefallen scheinen. Auf einem davon breiten sich gar Kleckse, Tupfer, so etwas wie Pinselproben aus. Es ist mit 1860 datiert, und doch könnte man es ebenso gut für eine abstrakte Zeichnung der Gegenwart halten. Ob es sich bei diesem unbetitelten Blatt nicht doch um eines handelt, auf dem Hugo bloß den Pinsel testete?
Eher nicht. Tatsächlich war der Autor, wenn er sich abseits gesellschaftspolitisch engagierter Prosa, Dramen und Lyrik der Zeichenkunst hingab, von großer Experimentierfreude getrieben. Großzügig gewährte er dem Zufall Einlass in seine Bildwelt. Gut, kaum wird man dabei von "Abstraktion" im eigentlichen Sinn sprechen. Öfter nutzte Hugo unbestimmte Bildelemente als Effekt oder Ausgangspunkt. So formulierte er etwa einen rorschachtestartigen, symmetrischen Patzer zu einer anmutigen, sich im Wasser spiegelnden Stadt am Rhein (1850) aus. Es handelt sich um ein Bild, in dem vermittels verschwimmender Farbe das Wasser, jenes von den Romantikern verehrte Element, gewissermaßen "zur Sprache kommt".
Durchaus verspielt
Auch ansonsten war, wie die Schau im Leopold-Museum zeigt, Hugo durchaus verspielt. Aus einem Abdruck von Spitzenstoff auf Papier machte er mittels weniger hinzugefügter Zeichenstriche ein "Gespenst"; der Darstellung eines Aquädukts verlieh er durchs Abkratzen der Farbe eine besondere Textur. Nicht nur die Methoden muten indes eigenartig "modern" an, sondern auch Hugos Themen. Zu den schönen Bildern der Schau zählt ein 1850 zu Papier gebrachter, monumental in der Landschaft stehender Pilz. Auch hier kokettiert Hugo mit der Fantasie des Betrachters: Wer genau schaut, mag an dem Schwammerl ein Gesicht erkennen.
Es waren späterhin nicht zuletzt die Surrealisten, die sich von Hugos Bildwelt – seinen traumartigen Szenerien, seinen der Tradition entsagenden Techniken – angezogen fühlten. Sie erklärten Strategien, die Hugo im Sinne romantischer Uneindeutigkeit eingesetzt hatte, zum Programm. Ob man ihn, den Romantiker, der sich zugleich für die Erhaltung gotischer Architektur einsetzte, deshalb als Vorreiter sehen kann? Das ist eine jener Fragen, die die Schau im Leopold-Museum durchaus spannend machen.
Gegenüberstellung mit Günter Brus
Zu den österreichischen Verehrern von Hugos Bildern zählt neben Arnulf Rainer etwa Günter Brus. Den Aktionskünstler, der sich nach körperverzehrenden Performances in den 1960er-Jahren auf die Zeichenkunst verlegte, verbindet mit dem Franzosen das genreübergreifende Denken, aber auch die Neigung zum Märchenhaften und Grotesken. Direkt gegenübergestellt erlebt man die beiden in der Schau Nach der Dämmerung im Grazer Bruseum.
Ganz als gesellschaftskritischer Autor wird Hugo indes in Erscheinung treten, wenn der gegangen gewordene Volksbühnen-Indentant Frank Castorf, nun tätig am Berliner Ensemble, im Dezember ebendort Les Misérables inszeniert. (Roman Gerold, 22.11.2017)