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Aly Raisman sprach in "60 Minutes" darüber, Opfer von Missbrauch geworden zu sein.

Foto: AP/Jae C. Hong

München/New York – Die investigative Fernsehsendung "60 Minutes" sorgt seit 50 Jahren für Schlagzeilen durch Reportagen und Interviews. Etwa 15 Millionen ZuschauerInnen hat sie Woche für Woche. Am vorvergangenen Sonntag kam dort Aly Raisman zu Wort, dreifache Turn-Olympiasiegerin. Und die 23-Jährige bestätigte: Ja, auch sie sei Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Arzt des US-Verbandes USA Gymnastics geworden.

Raisman, bei den Olympischen Spielen 2012 und 2016 Kapitänin der erfolgreichen US-Riege, vermied Details, doch sie ist nicht die erste Turnerin, die an die Öffentlichkeit ging. Vor ihr hatte unter anderem ihre ehemalige Mannschaftskollegin McKayla Maroney (21) erklärt, sie sei über Jahre hinweg sexuell missbraucht worden. "So etwas passiert nicht nur in Hollywood", teilte sie in den sozialen Medien mit, wo sie sich der #MeToo-Bewegung angeschlossen hat.

Auf "Stillschweigen trainiert"

Auch die dreifache Turn-Olympiasiegerin Gabrielle Douglas gehört zu den Missbrauchs-Opfern. Dies bestätigte die 21-jährige US-Amerikanerin in einer Nachricht auf Instagram. Die zweimalige Weltmeisterin erklärte, dass der frühere Team-Arzt des US-Turnverbandes, Larry Nassar, auch sie sexuell missbrauchte. Als Grund für ihr bisheriges Schweigen nannte sie die Tatsache, dass sie zu einer Gruppe gehörte, die auf "Stillschweigen trainiert war".

In ihrer Instagram-Nachricht entschuldigte sich Douglas auch für ihre Kommentare aus der vergangenen Woche, in denen sie angedeutet hatte, dass Frauen sich zurückhaltend kleiden sollten, um sexuelle Übergriffe zu verhindern.

CBS Boston

Nassar war von 1996 bis 2015 leitender Mannschaftsarzt der erfolgreichsten Riege der Welt. Bereits mehr als 140 Frauen beschuldigen den Mediziner, der an der Michigan State University beschäftigt war, des sexuellen Missbrauchs. Nassar soll die Turnerinnen der US-Riege und Sportlerinnen von Michigan State unter dem Vorwand "medizinischer Behandlungen" über Jahre missbraucht haben. Am eindringlichsten schilderte dies bislang die dreifache Weltmeisterin Maroney: Auf dem Flug zur WM 2011 in Tokio habe ihr Nassar eine Schlaftablette verabreicht, und das "Erste, an das ich mich danach erinnerte, war dann, dass ich mit ihm alleine im Hotelzimmer war", berichtete Maroney. "Ich dachte in dieser Nacht, ich sterbe."

Beinahe 400 Fälle

Die Übergriffe von Nassar seien nur "die Spitze des Eisberges", sagte Bill Schuette, der Generalstaatsanwalt von Michigan. Laut "Indystar" sollen in den vergangenen 20 Jahren nachweislich 368 Turnerinnen und auch Turner durch ihre Trainer, Betreuer oder Turnzentrum-Inhaber missbraucht worden sein. Viele Taten seien von Offiziellen vertuscht worden.

Aufgeflogene Trainer seien versetzt und nicht entlassen worden. Die Zeitung hatte unter anderem von der sexuellen Belästigung einer Zwölfjährigen durch ihren Olympia-Trainer berichtet, von Nacktfotos sechsjähriger Buben und regelmäßigem Sex mit Minderjährigen.

Verband "entsetzt"

Nassar (55) sitzt bereits in Untersuchungshaft, gegen ihn wurde schon im vergangenen Jahr Anklage erhoben. Am Mittwoch bekannte er sich vor Gericht in Lansing (Michigan) in sieben Fällen des sexuellen Missbrauchs schuldig. Zuvor hatte er sich zu Vorwürfen der Kinderpornographie schuldig bekannt – in seinem Besitz befanden sich mehr als 37.000 Bilder und Videos, zum Teil mit Mädchen im Alter von sechs Jahren. Am 7. Dezember fällt das Urteil. Ihm drohen bei einem Schuldspruch 22 bis 27 Jahre Haft. Bereits am 29. November muss er sich in einem weiteren Prozess verantworten: wegen strafbarer sexueller Handlungen in 33 Fällen.

Im Zuge der Ermittlungen hatte sich Nassar noch damit zu rechtfertigen versucht, er habe seine Behandlungen vorgenommen, um "die Beckenmuskulatur der Turnerinnen zu entspannen". Sein Anwalt Matthew Borgula hatte in den polizeilichen Befragungen behauptet, sein Mandant habe "nie abgestritten, medizinische Techniken zu benutzen, die eine vaginale Penetration einschließen".

USAG hob nach den Aussagen von Maroney deren Mut hervor, "an die Öffentlichkeit zu gehen, um ihre persönlichen Erfahrungen mit dem sexuellen Missbrauch zu teilen. Wegen ihrer Stärke können solche Sexualstraftäter belangt werden." Der Verband sei zudem "entsetzt über die Vorwürfe, wegen denen Larry Nassar jetzt angeklagt ist". Zudem betonte USAG, derartige Enthüllungen stärkten die eigene "Politik gegen sexuellen Missbrauch".

Allerdings hat der Verband Vorwürfe über Jahre hinweg missachtet oder verharmlost. Erst durch Recherchen der Zeitungen Indianapolis Star und USA Today wurde während der Spiele 2016 publik, dass bekannte oder mutmaßliche Sexualstraftäter für den Verband arbeiteten oder gearbeitet hatten.

Kulturwandel nötig

Der ehemalige USAG-Chef Steve Perry, der Trainer und Betreuer des Verbandes, der trotz der vielen Vorwürfe die Arbeit des Verbandes als "goldenen Standard" bezeichnet hatte, ist seit März nicht mehr im Amt. Seitdem hat die ehemalige Bundesstaatsanwältin Deborah Daniels den Verband komplett durchleuchtet und 70 Empfehlungen ausgesprochen. Die wichtigste davon: USA Gymnastics benötige einen "Wandel seiner Kultur", damit die Sicherheit und das Wohlbefinden der SportlerInnen bedeutender seien als WM- oder Olympia-Medaillen.

Die Turnerinnen waren in den USA stets die Idole junger Mädchen. Eine Karriere als Turnerin verhieß sozialen Aufstieg und Ruhm. Ein Star wie Raisman wird noch heute umschwärmt. Sie, die wie viele andere aus Scham lange geschwiegen hat, sagt nun: Wenn sie heute all die jungen Mädchen sehe, "die zu mir kommen und Fotos und Autogramme wollen", denke sie vor allem daran, "einen Wandel zu bewirken", damit ihre vielen Verehrerinnen "nie, nie durchmachen müssen", was sie und andere erlebt haben. (sid, 22.11.2017)