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Philip Hammond und sein Koffer unterwegs in die Downing Street 11.

Foto: AP/Augstein

London – Trotz deutlich nach unten korrigierter Wachstumsprognosen und anhaltendem Haushaltsdefizit will die britische Regierung Geringverdiener und Sozialhilfeempfänger entlasten sowie in Zukunftstechniken investieren. Den Prognosen der unabhängigen Budgetbehörde OBR zufolge wird die sechstgrösste Volkswirtschaft der Welt bis 2020 einen Wachstumsrückgang auf 1,3 Prozent verzeichnen, teilte Finanzminister Philip Hammond am Mittwoch im Unterhaus mit. Die konservative Regierung werde an ihrer sparsamen Haushaltspolitik festhalten, ihren durch höhere Steuereinnahmen gewonnenen Spielraum aber nutzen: "Wir stellen uns den Herausforderungen der Zukunft."

Der mächtigste Befürworter einer weiterhin möglichst engen Bindung an die EU stand zuletzt massiv unter dem Druck von Brexit-Galionsfiguren wie Außenminister Boris Johnson und Umweltminister Michael Gove. Aus dem Lager der EU-Hasser hatte es vorab geheißen, der neue Haushalt müsse Mut zeigen, ja sogar "revolutionär" sein. Gefordert wurden Milliarden-Investitionen beispielsweise bei Zoll- und Grenzbehörden – ein Signal an Brüssel, dass London notfalls auch ohne Vereinbarung aus Binnenmarkt und Zollunion ausscheiden werde.

Massiver Druck

Umgekehrt steht das Kabinett von Premierministerin Theresa May unter massivem Druck der Wirtschaft, bis Ende des Jahres zu einer wenigstens vorläufigen Vereinbarung mit den 27 EU-Partnern zu kommen. Der Brexit stelle "die wichtigste Unsicherheit für Wachstum und Defizit" dar, glaubt Wertpapierexperte Shilen Shah vom Assetmanager Investec. Wichtig sei insbesondere ein Deal für den Dienstleistungssektor, der 80 Prozent der Wirtschaftsleistung auf der Insel ausmacht.

Hammond sprach den Brexit nur indirekt an. Die Zukunft werde "große Veränderung, erhebliche Herausforderungen, aber vor allem viele neue Chancen bringen", gab sich der Minister überzeugt. Neben den bereits verplanten 845 Millionen Euro halte er weitere 3,4 Milliarden Euro für Brexit-Maßnahmen bereit.

Finanzspritzen

Bereits vorab hatte das mächtige Schatzkanzleramt gezielte Finanzspritzen für innovative Industrien in Aussicht gestellt. So sollen sich ab 2021 selbstfahrende Autos auf den Straßen des Königreichs tummeln. Käufern von E-Autos winken Zuschüsse, umgerechnet 451 Milliono Euro sollen in den Bau von Ladestationen investiert, der Ausbau des besonders schnellen Mobilfunknetzes 5G gefördert werden. Hammond kündigte außerdem Hilfen für Unternehmen an, die im Bereich künstliche Intelligenz forschen.

Während der Unternehmerverband CBI die Pläne des Finanzministers als "guten Haushalt für ein Land in harten Zeiten" wertete, wartete Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn mit massiver Kritik auf. Das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung liege niedriger als beim Amtsantritt der Tories 2010, das Wirtschaftswachstum habe den Tiefststand seit 2009 erreicht, die Prognosen machten Grossbritannien zur Wachstumsschnecke im Kreis der wichtigsten Industrienationen. "Es handelt sich um eine Bilanz des Scheiterns, und keine Aussicht auf Besserung." Dem Sozialdemokraten zufolge hat das ärmste Zehntel der Bevölkerung seit der Finanzkrise ein Zehntel seines Einkommens eingebüßt, während die wohlhabendsten Briten lediglich ein Prozent ihres Reichtums abgeben mussten.

Härtefallfonds

In der Sozialpolitik nahm Hammond, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden Kritik von Opposition und Fachverbänden, eine erhebliche Kurskorrektur vor. So soll ein Härtefallfonds von umgerechnet 1,7 Milliarden Euro bei der Umsetzung der umstrittenen Reform helfen, die Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und Wohngeld zum Universal Credit zusammenlegt. Dem nationalen Gesundheitssystem NHS winken zusätzliche Milliarden; damit dürften Ärzte und Krankenschwestern nach längerer Zeit wieder einmal einen Real-Lohnzuwachs erhalten. Bisher waren die Lohnsteigerungen von der Inflation von derzeit drei Prozent aufgefressen worden.

Erkennbar konzentrierte Hammond seine Aufmerksamkeit auf jüngere Bevölkerungsschichten unter 50 Jahren, die den Torys bei der Unterhauswahl im Juni mehrheitlich die Gefolgschaft verweigert hatten. So sollen junge Berufstätige beim ersten Hauskauf von der Immobiliensteuer befreit werden; die Ersparnis geht in die Tausende. Der Steuerfreibetrag wird erneut erhöht, der Mindestlohn steigt im April auf umgerechnet 8,82 Euro pro Stunde. (Sebastian Borger aus London, 22.11.2017)