Árpád Schilling inszeniert am Landestheater Niederösterreich. Er vermisst die öffentliche Solidarität in seiner Heimat Ungarn.

Foto: Heribert Corn

Wien / St. Pölten – Als Árpád Schilling (43) vom Ausschuss für Nationale Sicherheit des ungarischen Parlaments im September zum "Staatsfeind" erklärt wurde (genauer Wortlaut: "potenzieller Vorbereiter staatsfeindlicher Aktivitäten"), machte sich in der österreichischen Theaterszene, in der der Regisseur seit Jahren regelmäßig tätig ist, Entsetzen breit. Das kann ja wohl nur ein Witz sein? War es aber nicht. Konkrete Folgen zeitigten die ohne Evidenz ausgesprochenen Anschuldigungen nicht. Allerdings hat Schilling bereits vor zwei Jahren beschlossen, nicht mehr in Ungarn zu inszenieren, ein Berufsbann könnte ihn derzeit also nicht treffen.

Viel schlimmer ist die Tatsache, dass es keinerlei Solidarität von ungarischen Theaterinstitutionen gab. Das ist typisch für die ungarische Gesellschaft, meint Schilling im Standard-Gespräch und holt ein wenig aus: Seine Landsleute hätten nach der kommunistischen Zeit nie gelernt, mit demokratischem Rüstzeug umzugehen. "Man hat uns gesagt, ihr könnt alle vier Jahre wählen gehen, den Rest erledigen wir."

Eine Krankenpflegerin habe sich unlängst, so erzählt Schilling, an die Öffentlichkeit gewagt, um die schlechten Arbeitsbedingungen in ungarischen Spitälern anzuprangern, und kein einziger Kollege sei ihr beigestanden, obwohl jeder wisse, wie miserabel die Situation sei. Oder: Ein Universitätslehrer habe bei einer Demonstration die Verschlechterung im Bildungswesen beklagt und sei zwei Tage später von seinem Vorgesetzten ermahnt worden, es kein zweites Mal mehr zu tun. "Alle kuschen. Der existenzielle und psychische Druck ist enorm. Die Regierung hat das perfekt in der Hand."

Es sprudelt aus Schilling heraus. Dabei geht es dem vielfach ausgezeichneten Regisseur und Gründer des heute nur noch als Produktionsplattform geführten Krétakör-Theaters nicht um seine Person oder die ihn betreffende Ächtung, sondern um den schlechten Befund von Mündigkeit und des Miteinanders, von dem verstärkt die Rede ist, seit sich weite Teile der europäischen Gesellschaften bedroht fühlen. "Die Menschen verhalten sich in Ungarn mittlerweile wie im Mittelalter!", sagt er.

Angstpropaganda

Die rechtsnationale Fidesz-Partei betreibe auf allen Ebenen Angstpropaganda: Angst vor Brüssel, Angst vor George Soros, Angst vor Migranten usw. "Und dann tritt Orbán heraus und sagt, ich beschütze euch. Das ist die Geste des Königs!" Und weiter: "Die Menschen fürchten sich mehr vor Migranten als vor dem Niedergang der Krankenhäuser und Bildungseinrichtungen! Das ist doch gegen jeden Wert, das ist Antikultur. Das beunruhigt mich sehr. Was passiert hier mit unserem zivilisatorischen Niveau!?"

Schillings politisches Bewusstsein war immer Antriebsfeder für seine Theaterstücke und hat ihm auch den Ruf als politischer Aktivist eingetragen. 2010 hat er mit Krétakör noch sozialpädagogische Projekte betrieben, Integrationsarbeit an Schulen geleistet. Das wurde Schritt für Schritt eingedämmt, der Zutritt zu den Schulen verwehrt. Heute werden über Krétakör vor allem Demonstrationen organisiert, etwa um NGOs zu unterstützen.

Schilling selbst arbeitet als Regisseur allein weiter, im Ausland. Derzeit wird die Wiederaufnahme von Eiswind am Akademietheater (19. 12.) vorbereitet, einem Thriller, in dem aufgrund von geschürter Angst tiefe Gräben zwischen Menschen(-gruppen) klaffen. Einen etwas anderen Fokus hat sein jüngstes, wieder in Zusammenarbeit mit Éva Zabezsinszkij entstandenes Drama, das am 1. Dezember am Landestheater Niederösterreich zur Uraufführung kommt. Im Stück Erleichterung wird die Auflösung eines Flüchtlingsheims mit der Errichtung eines Sportzentrums für Behinderte argumentiert, während zugleich ein Behinderter, zu Gast im Haus der Protagonistenfamilie, diskriminiert wird. Es ist ein fein gesponnenes, tief sitzende Konflikte austragendes Drama.

Es fragt danach, was unsere westlichen Werte eigentlich ausmacht, und zeigt, wie schnell sie zerbröseln. Indes werden mit wehenden Fahnen in Europa von immer größeren Mehrheiten "christliche Werte" verteidigt, nicht um sie zu leben, sondern um anderen gegenüber als überlegen zu erscheinen. Und hier setzt Schillings Stück an, das erneut Schattierungen und Leerstellen eines Thrillers geschickt in sich vereint. Als Vorbild nennt der Regisseur das Werk von Rainer Werner Fassbinder, der in kleinen, familiären Mikrokosmen die Widersprüche gesellschaftlicher Entwicklungen abzubilden vermochte.

"Viele Politiker haben keine ideologische Integrität mehr, sie verhalten sich opportun. Sie reden ständig von der europäischen Kultur, den Traditionen, aber wenn man genau hinhört, dann sagen sie immer nur: ,Ich, ich, ich.'" Auch westliche Regierungen – siehe Emmanuel Macron in Frankreich oder demnächst Sebastian Kurz in Österreich -, so konstatiert er, interessierten sich nicht für Sozialpolitik und Minderheiten. "Überall ist ein Orbán." (Margarete Affenzeller, 23.11.2017)