Es braucht einen Pluralismus – ein Mosaik – an Alternativkonzepten in der Wirtschaftswissenschaft.

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Die Auseinandersetzung um kritische und plurale Wirtschaftswissenschaft ist in eine neue Phase eingetreten. Tatsächlich sind die Zeiten der Alternativlosigkeit und der unangefochtenen Mainstream-Wahrheiten vorbei. Eine nationalistische Internationale in Form von völkischen und rechts-autoritären Führungsfiguren, Parteien, Bewegungen, NGOs und Medien beginnt sich zu institutionalisieren und weltweit zu vernetzen. Sie bringen zustande, was linke Massenbewegungen und Parteiprojekte in den zehn Jahren seit Ausbruch der Finanzkrise nicht konnten oder nicht wollten: Sie formulieren eine Alternative zur in Misskredit geratenen Ideologie des Neoliberalismus. Das TINA-Prinzip ("There Is No Alternative") bekommt Konkurrenz durch eine starke Erzählung nationaler Ermächtigung, gepaart mit religiösen, rassistischen, anti-feministischen und anti-ökologischen Ressentiments. Plurale Wirtschaftspolitik kommt – aber in Form von nationalistisch motiviertem Protektionismus und autoritären, staatskapitalistischen Wachstumsstrategien.

Der Mangel an (ideologischem) Pluralismus ist damit nicht mehr der zentrale Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Die dominante Konfliktlinie verläuft zwischen denjenigen politischen Kräften, die die neoliberale Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte, das "TINA-Prinzip", aufrechterhalten und vertiefen wollen und denen, die sie kritisieren und neue Formen internationaler wirtschaftspolitischer Koordination entwickeln. Die Frage ist nicht, ob, sondern welche Alternativen sich durchsetzen.

Welcher Pluralismus?

Damit verliert die Pluralismusforderung zunehmend ihre Stellvertreterfunktion für ein progressives gesellschaftliches Projekt. Denn welchen Pluralismus meinen wir? Alternative Ökonomik wird auch von rechten und reaktionären Kräften beansprucht. Nicht nur die AfD in Deutschland wurde auf ökonomischen Ansätzen abseits des Mainstreams errichtet, wie Joachim Becker und Rudy Weissenbacher in ihrer besorgniserregenden Studie "Heterodoxy from the Right" aufzeigen. Darin wird deutlich, dass eine reiche Tradition reaktionärer, sozial-chauvinistischer und verkürzter ökonomischer Erklärungsmuster und Denkschulen existiert.

Solange es nicht um spezifische – linke oder rechte – Alternativen zum Mainstream ging, sondern um das Einfordern von Alternativen an sich, konnten progressive gesellschaftliche Ziele und Plurale Ökonomik Hand in Hand gehen. Dem Pluralismusbegriff gelang es in dieser Zeit, den unfruchtbaren Antagonismus zwischen Heterodoxie und Orthodoxie zu überwinden und eine neue Dynamik zu erzeugen. Mit der Veränderung des politischen Terrains ist Plurale Ökonomik, zu Neutralität verpflichtet, jedoch in ein lock in geraten. Während ein neuer wirtschaftspolitischer Antagonismus zwischen dem kosmopolitischen Neoliberalismus und der neu-rechten Globalisierungskritik entsteht, verschwimmt der Standpunkt der kritischen Wirtschaftswissenschaft in pluraler Beliebigkeit.

Politische Kraft fehlt

Damit büßt die Bewegung für kritische Wirtschaftswissenschaft ihr transformatives Potential zunehmend ein. Denn einer NGO-Logik, nach der Nischenforderungen durch Lobbying und institutionelle Strategien durchgesetzt werden sollen, fehlt die politische Kraft, um eine echte Transformation der Mainstream-VWL und ihrer politisch-hegemonialen Verankerung tatsächlich durchzusetzen – anstatt nur neue Nischen zu produzieren. Es braucht eine transnationale Organisierung, die lokale Transformationen, weit sichtbare Kampagnen und kritische ökonomische Expertise miteinander vernetzt und dabei Teil grundlegender politischer Dynamiken ist.

Ökonomischer Pluralismus

Was lässt sich aus der bisherigen Argumentation ableiten? Wie können Pluralismus in der universitären Bildung und ein progressives gesellschaftspolitisches Projekt unter den neuen politischen Rahmenbedingungen glaubhaft und stimmig miteinander verknüpft werden? Diese Frage anderen Akteuren zu überlassen oder alles auf den Begriff der "transformativen Wissenschaft" zu setzen, wäre voreilig. Es muss eben einen Pluralismus (oder besser: ein Mosaik) an Alternativkonzepten geben. Löst sich alles im omnipräsenten Transformationsdiskurs auf, geht der Blick auf die notwendigen Unterschiede und Dissense verloren.

Die Forderung nach ökonomischem Pluralismus könnte ein zentrales Vehikel sein, mithilfe dessen sich das Netzwerk Plurale Ökonomik an wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen orientieren und eine progressive Rolle einnehmen könnte, ohne mit der Forderung nach Pluralismus in der Bildung in Konflikt zu geraten.

Einseitigkeit und Dominanz hinterfragen

Das Konzept des ökonomischen Pluralismus ist nicht neu. Im Buch "Economic pluralism" (Garnett, Olsen, Starr) werden Ansätze einer "Pluralen Ökonomie" und einer "Pluralen Ökonomik" gemeinsam präsentiert und Verbindungen aufgezeigt. "Economic pluralism" wird hierbei insbesondere mit dem "Diverse Economies"-Ansatz von Gibson-Graham (Diverse economies: Performative practices for 'other worlds'. Progress in Human Geography) assoziiert. Dieser besagt knapp ausgedrückt: Der Kapitalismus dominiert zwar das ökonomische Geschehen, es gibt jedoch eine Vielzahl nicht-kapitalistischer Praktiken und "Räume", die ausgeweitet und vernetzt werden können. Die Forderung nach ökonomischen Pluralismus ließe sich jedoch breiter formulieren. Es würde allgemein darum gehen, die Einseitigkeit und Dominanz einer bestimmten ökonomischen Systemlogik zu hinterfragen und die Handlungslogiken und Strukturprinzipien ökonomischer Reproduktion zu pluralisieren. Diese allgemeine Forderung ließe sich anhand verschiedener gesellschaftlicher Auseinandersetzungen konkretisieren, etwa

Freihandel: Multi- und bilaterale Freihandelsabkommen setzen einseitig auf Investorenrechte und den Abbau von Handelshemmnissen. Rechte verschiedener gesellschaftlicher Gruppen sowie der Umwelt müssen ausgewogener Berücksichtigung finden. Kleinere Unternehmen und nicht-profitorientierte Produktionsformen dürfen keinen Nachteil erleiden beziehungsweise müssen gefördert werden.

Protektionismus: Die Globalisierungskritik von rechts argumentiert ebenfalls einseitig. Anstatt dem Gegensatz zwischen ökonomischer Globalisierung und dem Wirtschaftsnationalismus à la Trump braucht es eine dritte Option: eine international Koordinierte ökonomische De-Globalisierung, welche die Vielfalt ökonomischer Praktiken und Regulierungsformen begünstigt.

Wachstum: Die Festlegung auf das Wirtschaftswachstum als wichtigster ökonomischer Zielgröße ist einseitig. Vielfältige Wohlstandsindikatoren und Postwachstumspolitiken müssen gestärkt werden.

Eigentum: Eine einzige Form des Eigentums dominiert das Wirtschaftsgeschehen. Andere Formen des Eigentums und des gemeinsamen Wirtschaftens müssen gestärkt werden, zum Beispiel Commons, Share Economy.

Steuerpolitik: Die Besteuerung von Arbeitseinkommen und die Vernachlässigung von Kapitaleinkommen und Erbschaften ist einseitig. Ein pluraler Steuermix würde eine Gleichbesteuerung der Einkommensarten anstreben.

Europäische Integration: Ein alleiniger Fokus auf ökonomische Integration durch den Abbau von Regulierungen ist einseitig. Die wirtschaftspolitische Isolation nationaler Räume ebenso. Stattdessen sollte es vielfältige Möglichkeiten von selektiver Desintegration in bestimmten Bereichen und verstärkter Integration in anderen Bereichen geben.

Lebensweisen: Die bestehende Lebensweise wird einseitig durch das Loharbeitsverhältnis geprägt. Plurale Lebensweisen, wie etwa die Vier-in-Einem-Perspektive sie vorschlägt, sollten gefördert werden. Durch soziale Innovationen, wie etwa Arbeitszeitverkürzung oder das Bedingungslose Grundeinkommen, aber auch durch andere Produktions- und Konsumstrukturen, sollten Ermöglichungsbedingungen einer vielfältigeren Lebensweise geschaffen werden.

Der dritte Pol

Dies sind nur einige wenige Beispiele, wie die Forderung nach einer Pluralen Ökonomie an aktuellen wirtschaftspolitischen Kontroversen anknüpfen könnte. Sie hat Schnittmengen mit den Forderungen der Postwachstumsökonomik, des Commons-Diskurses, des Post-Keynesianismus oder der kritischen Entwicklungsökonomik. Andererseits legt sie sich nicht auf eine bestimmte Alternative fest. Die Alternative ist vielmehr die ökonomische Vielfalt als solche.

Die "Plurale Ökonomie" könnte einen Gegenpol sowohl zum "TINA-Prinzip" beziehungsweise dem kosmopolitischen Neoliberalismus als auch zur Globalisierungskritik von Rechts beziehungsweise dem neuen Wirtschaftsnationalismus bilden. Damit würde sich die Bewegung für plurale und kritische Wirtschaftswissenschaft wieder eine Stellvertreterfunktion im Kontext aktueller gesellschaftlicher Auseinandersetzung erarbeiten. Denn ein solcher "dritter Pol" neben dem Neoliberalismus der Mitte und den falschen Alternativen von rechts ist die große Leerstelle, die andere Akteure derzeit nicht zu Füllen in der Lage sind. (Samuel Decker, 24.11.2017)