Lebenserfahrungen darf ein Richter in Urteilsbegründungen einfließen lassen, rein subjektive Gefühle nicht.

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Richter Andreas Rom hat in der Erläuterung des Freispruchs dargelegt, warum Kinder und Exfrau des oststeirischen Arztes als Zeugen unglaubwürdig seien.

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Wien – Der Freispruch für den oststeirischen Arzt Dr. L., der seine Kinder gequält haben soll, hat vielerorts Bestürzung hervorgerufen, die Zitate aus der Urteilsbegründung noch mehr. So hat der Richter persönliche Werturteile über die Zeugen einfließen lassen und Aussehen und Kleidung mit deftigen Worten beschrieben.

Darf ein Richter berücksichtigen, wie sich ein Zeuge, eine Partei schmückt oder kleidet? Sind daraus Rückschlüsse auf ihre Glaubwürdigkeit oder ihr Verhalten zulässig? Diese Fragen werden nicht nur in dieser Causa in Justizkreisen diskutiert.

Zwischen Wahrheit und Lüge

Klar ist: Richter sein ist nicht immer einfach – vor allem dann nicht, wenn die Entscheidung davon abhängt, wer wohl die Wahrheit gesagt hat und wer nicht. Das ist Teil der Beweiswürdigung, aus der folgt, welche Geschichte ("Sachverhalt") das Gericht seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde legt. Lügt die Frau, die ihrem Vorgesetzten sexuelle Übergriffe vorwirft, oder er, der sich als stets korrekten Chef beschreibt?

Wie ein Richter mit divergierenden Beweisergebnissen umzugehen hat, regelt für den Bereich des Zivilprozesses die Zivilprozessordnung. Während es früher gesetzliche Beweisregeln gab (zum Beispiel: Was zwei unbedenkliche Zeugen übereinstimmend aussagen, ist wahr), gilt heute der Grundsatz der "freien Beweiswürdigung": Das Gericht hat unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse der gesamten Verhandlung und Beweisführung nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine tatsächliche Angabe für wahr zu halten ist oder nicht.

Nicht rein subjektiv

Dabei muss der Richter nach bestem Wissen und Gewissen vorgehen, keinesfalls aber rein subjektiv oder von Sympathien gelenkt ("Dem Zeugen wurde Glaube geschenkt, weil er auf das Gericht einen ehrlichen Eindruck machte"). Er muss begründen, wieso er sich von einer Aussage hat überzeugen lassen: "Die Angaben der Zeugin X waren sachlich, schlüssig und ohne Tendenz, der einen oder anderen Partei zu nützen."

Dabei darf der Richter durchaus seine Lebenserfahrung und Menschenkenntnis sowie den durchschnittlichen Erfahrungs- und Wissensschatz anwenden. Alles andere wäre ja auch unrealistisch: Noch entscheiden keine Roboter.

Solche Erfahrungssätze ("Benzin ist leicht entflammbar", "Eine U-Bahn kann sich verspäten") können aber im Rechtsweg überprüft werden. Eine Annahme "Wer konservativ lebt, behandelt seine Familie immer gut" hielte hingegen keiner Beurteilung im Instanzenzug stand.

Da das Gericht die Ergebnisse der gesamten Verhandlung miteinzubeziehen hat, darf es vor allem nicht voreilig sein und etwa schon in der ersten Verhandlung, vor den Vernehmungen, Behauptungen einer Seite glauben. Eine Äußerung wie "So wie Sie sich gegenüber der Beklagten benommen haben, werden Sie aber kaum gewinnen können" ist ein No-Go.

Urteilsbegründung

In der Urteilsbegründung darf kein Detail übergangen werden. Das betrifft nicht nur das Vorbringen der Parteien, die vorgelegten Urkunden, die Aussagen, sondern durchaus auch das Verhalten der vernommenen Personen in der Verhandlung: Wer bei Gericht wiederholt aufbrausend ist, wird schwer beweisen können, dass er als Nachbar stets ruhig und beherrscht war. Eine Zeugin, die auf "unangenehme" Fragen mit großer Verzögerung antwortet, kann damit den Eindruck erwecken, sie wolle die Wahrheit verbergen. Kommt ein Arbeitnehmer zu jeder Verhandlung zu spät, wird das im Entlassungsprozess wegen ständigen Zuspätkommens nicht hilfreich sein.

Im Mittelpunkt steht aber natürlich die Aussage der vernommenen Person. Wer bei einer (auch noch so nebensächlichen!) Lüge ertappt wird, wird das Gericht insgesamt schwer überzeugen können. Gibt eine Partei etwas für sie Negatives zu, vermittelt das oft einen ehrlichen Eindruck – wiewohl das natürlich auch nur Kalkül sein kann. Verwickelt sich eine Person in Widersprüche, wird es eine besonders gute Begründung im Urteil brauchen, wenn andere Angaben dieser Person als Beweis dienen sollen.

Das Aussehen einer Partei oder eines Zeugen hat in der Beweiswürdigung aber grundsätzlich nichts verloren. Es ist in der Regel nur eine Momentaufnahme und darf nicht mit dem Charakter eines Menschen gleichgesetzt werden. Justitia ist bekanntlich blind. (Kristina Silberbauer, 27.11.2017)