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Eine #MeToo-Demo Anfang November in Los Angeles: Eine Frau trägt die Namen von Tätern auf ihrer Kleidung.

Foto: REUTERS/Lucy Nicholson

Opfer sind unbeliebt. Nicht nur am Schulhof wird der Begriff als verächtliche Beschimpfung für Verwundbarkeit verwendet ("Du Opfer"). Auch in der aktuellen #MeToo-Debatte kommt immer wieder der Vorwurf, Frauen würden sich "in die Opferrolle begeben". Oder aber das, was jemand einer Frau angetan hat, wird zur Definition ihrer Identität erhoben ("Sie ist ein Opfer sexueller Übergriffe"). Im Bereich sexuelle Belästigung bringt der Begriff mitunter eine Wehrlosigkeit zum Ausdruck, die als Diskrepanz gegenüber dem Anspruch an Gleichberechtigung thematisiert wird. Dabei lautet die Diktion: Wenn man in gewissen beruflichen Bereichen teilhaben will, dann muss man auch in der Lage sein, sich zu wehren.

Gleichberechtigung nur für Wehrhafte?

Donald Trump Jr. meinte etwa, wenn Frauen nicht mit Belästigung am Arbeitsplatz umgehen können, dann sollten sie besser im Kindergarten arbeiten. Nina Proll ist in diesem Kontext der Ansicht, dass nicht jede Frau Schauspielerin sein muss und man auch Frisörin oder Handarbeitslehrerin werden kann.

Aussagen wie diese verdeutlichen nicht nur ein traditionelles Geschlechterrollenverständnis durch das Nahelegen von "weiblich geprägten" Berufen im Niedriglohnsektor, sondern auch die scheinbar unveränderliche Tatsache, dass derlei Verhaltensweisen gegenüber Frauen "stattfinden" sowie die Erwartungshaltung, dass es an ihnen liegt, ihr Verhalten anzupassen – und nicht an den jeweiligen Männern.

Die Verantwortung liegt beim "Opfer"

In der Diskussion zeigt sich immer wieder: Von den Betroffenen wird sehr viel Verantwortung und eine stark strukturierte Vorgehensweise erwartet. Warum wurde in der Situation keine eindringliche Grenzziehung vorgenommen? Warum hat man den Arbeitsplatz nach dem erlebten Übergriff nicht gewechselt? Warum kommen die Anschuldigungen erst Jahre nach dem Vorfall? Fragen wie diese sind fester Bestandteil der #MeToo-Debatte.

Das ist nicht nur ein Hohn für die Betroffenen, sondern auch eine hochgradige Banalisierung der Thematik. Demnach wird es als verdächtig oder als eigene Schuld angesehen, wenn man sich nach einem Übergriff zurückzieht, Angst hat, den Täter zu konfrontieren, weil man sein familiäres oder berufliches Umfeld verlieren würde oder erst einmal verdrängen und vergessen möchte. Was nicht Teil der Debatte ist: Viele Frauen sind nach derartigen Vorfällen mit einem starken Gefühl der sozialen Isolation konfrontiert, mit großer Scham und Verunsicherung.

Insgesamt stellt sich die eindringliche Frage: Warum liegt der Fokus in einem derartigen Übermaß auf den Pflichten der "Opfer"? Wie kommt es dazu, dass die Täterrolle im Gegenzug kaum thematisiert wird?

Victim-Blaming als Teil der sprachlichen Struktur

Ein Grund dafür ist, dass unsere kognitive Struktur darauf ausgelegt ist, Fragen über Frauen und ihre Entscheidungen zu stellen. Das beginnt bei den Ebenen des Satzbaus, bei der Art und Weise, wie wir Sprache benutzen. "Lisa wurde sexuell belästigt", "#MeToo, auch ich bin betroffen" – in diesen Satzkonstruktionen ist die Leidtragende das grammatikalische Subjekt. Der Täter bleibt unsichtbar. Damit stellen sich Fragen bezüglich des Subjekts: Warum wurde sie sexuell belästigt? Warum hat sie den Belästiger nicht in die Schranken gewiesen? Warum geht sie überhaupt mit solchen Männern aus? Fragen wie diese werden wenig zur langfristigen Prävention der Problematik beitragen.

Integriert man den Täter in die Satzkonstruktion und macht ihm zum Subjekt – "Martin hat Lisa sexuell belästigt" –, werden die Fragen auf ihn gelenkt und kognitiv naheliegender. Warum hat Martin Lisa sexuell belästigt? Warum hat Martin das Bedürfnis nach einer sexualisierten Machtdemonstration? Und darauf aufbauend: Warum finden so viele körperliche, emotionale und verbale Übergriffe von Männern gegenüber Frauen und Mädchen wie auch gegenüber Männern und Buben statt? Welche Rolle spielen Institutionen dabei, derartige Verhaltensweisen zu produzieren?

Spätestens seit dem #Aufschrei wissen wir, dass die überwiegende Mehrheit von Frauen Erfahrungen mit Sexismus, sexuellen Übergriffen oder sexualisierter Gewalt gemacht hat. #MeToo wäre nun eine Möglichkeit, dieses Bewusstsein nicht nur erneut aufzubringen, sondern auch den Fokus der Offenbarungen zu verändern: von Frauen als Erlebende hin zu Männern als Ausübende beziehungsweise Stillschweigende. Oder in anderen Worten: als sichtbare Subjekte.

Diskurs und Machtverhältnisse

Es ist eines der grundlegenden Merkmale von Macht und Privilegien: die Möglichkeit, Problemstellungen ohne kritische Selbstreflexion abzuhandeln – selbst wenn diese in erster Linie von der eigenen Gruppe oder Person verursacht werden. Das kann man in der aktuellen Debatte deutlich beobachten.

So werden Frauen, die Täter aus der Unsichtbarkeit hervorholen wollen, als "Männerhasser" charakterisiert. Eine althergebrachte Strategie, "to kill the messenger". Eine weitere rhetorische Praktik ist es, die strafrechtliche Verankerung von sexueller Belästigung als Arena der Vergeltung darzustellen, als Spielfeld für die Ambition, den Ruf von Männern zu zerstören. Eine klassische Methode, die Täter-Opfer-Rollenverteilung umzukehren. Oder aber sexualisierte Übergriffe werden als "Flirtversuche" gewertet, von Männern, die "aus einer anderen Zeit kommen". Eine Bemühung, die Delikte und Täter gleichermaßen zu bagatellisieren.

All das ist nichts Neues. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Frauen, die sich in den USA und Großbritannien für das Frauenwahlrecht starkgemacht haben, als hässlich, emotional verbittert und menschenfeindlich dargestellt. Die Postkartenindustrie unterstützte damals die systematische Verleumdung von Frauen, die sich für das nicht mehr wegzudenkende Grundrecht eingesetzt haben.

Heute geht es um das Grundrecht der Autonomie über den eigenen Körper und die eigene Würde. Und auch diesmal ist es wahrscheinlich, dass nicht die starke Willenskraft von politischen Machtinhabern der entscheidende Hebel für die Durchsetzung sein wird, sondern die zähe Widerstandskraft derjenigen, die sich dafür einsetzen. (Laura Wiesböck, 28.11.2017)