Technologien wie Apps sollen dabei helfen, das gesunde Leben zu führen, das man sich wünscht. Doch das pure Messen, wie oft und wie lange man Sport treibt, kann nicht die Frage ersetzen, ob man überhaupt so viel Sport treiben will, sagt Beate Rössler.

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Beate Rössler, "Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben". € 30,80 / 442 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2017

Rössler: "Alle Menschen denken über das richtige Leben nach."

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STANDARD: Wann wurde in der Geschichte der Philosophie das Thema Autonomie wichtig?

Rössler: Die Idee der individuellen Autonomie gibt es im Grunde erst seit dem 18. Jahrhundert, seit Immanuel Kant. Er verbindet die Moral mit dem Begriff der Autonomie. Das hat etwas sehr Aufklärerisches, weil es sich gegen die Idee wendet, dass wir moralischen Gesetzen deshalb folgen müssen, weil sie von Gott gegeben seien. Kants kategorischer Imperativ ist der Inbegriff der Idee, dass wir uns das moralische Gesetz selbst geben.

STANDARD: Welche Bedeutung hat der Begriff Autonomie in der Philosophie heute?

Rössler: Seit den späten 1960er-Jahren drehen sich Debatten um Autonomie um die Frage, was persönliche Autonomie ist. Und diese persönliche Autonomie wird nicht mehr an die Idee von moralischer Autonomie gebunden, wir können demnach auch autonom sein, ohne moralisch zu sein. Der Begriff persönlicher Autonomie ist also breiter und umfassender als der kantische.

STANDARD: Sie beschreiben in Ihrer Theorie Kriterien eines gelungenen Lebens. Wie kann man diese philosophisch ermitteln?

Rössler: Ich versuche zuerst einen allgemeinen Begriff von Autonomie zu entwickeln, um in einem nächsten Schritt zu schauen, wie sich dieser in konkreten gesellschaftlichen, sozialen oder individuellen Kontexten realisiert. Ein autonomes Leben ist jedenfalls ein Leben, in dem man darüber nachgedacht hat oder nachdenken konnte, wie man leben will, welche Werte einem wichtig sind. Das ist die Grundfrage der Autonomie: Wie will ich leben? Diese Frage ist anders als die kantische Frage nach den Pflichten, die wir haben, und knüpft an die antike Ethik an und deren Frage nach dem guten Leben. Doch sie kann in der Moderne nicht mehr beantwortet werden ohne den Rekurs auf individuelle Autonomie – auch deshalb, weil wir nur ein Leben sinnvoll finden können, das wirklich unser eigenes Leben ist.

STANDARD: Es ist schon schwer zu beurteilen, ob man selbst autonom handelt. Noch schwerer ist es, dieses Urteil für andere zu fällen. Einen Vollschleier zu tragen ist für viele als freie Entscheidung undenkbar. Können wir so etwas beurteilen?

Rössler: Man kann natürlich allgemeine Kriterien für ein autonomes Leben entwickeln, die allerdings immer schon mit unseren konkreten sozialen Realitäten rechnen müssen. Ich halte es in unseren liberal-demokratischen Gesellschaften für völlig plausibel, dass eine Frau sich autonom entscheiden kann, eine Burka – und natürlich sowieso ein Kopftuch – zu tragen. Natürlich gibt es totalitäre Gesellschaften, die es praktisch unmöglich machen, dass Personen autonom leben. Doch für alle anderen Gesellschaften muss man sich die Frage stellen, was genau die Bedingungen sind, unter denen Autonomie möglich ist. Dabei kommt man meistens auf ideale Antworten: Perfekte Bedingungen für Autonomien wären solche, in denen wir alle in der Gesellschaft anerkannt sind, wo wir Gleichheit als Wert internalisiert haben. Aber wir leben nicht unter idealen Bedingungen, und deshalb müssen wir uns unter diesen erschwerten Bedingungen genau ansehen, was im täglichen Leben Autonomie bedeuten kann.

STANDARD: Was ist mit unsichtbaren Zwängen?

Rössler: Unsichtbare oder jedenfalls nicht direkt sichtbare Zwänge oder Einschränkungen sind solche, die diskriminierende Strukturen betreffen. Aber auch der Konsumismus unserer Gesellschaft gehört dazu. Es ist wichtig, zu überlegen, welche Strukturen in unserer Gesellschaft verhindern, ein autonomes Leben zu führen. Das ist eine politische Frage, in der es um die Kritik von Gesellschaften geht, zum Beispiel um die Tatsache, dass wir permanent mit Werbung konfrontiert sind – diese Dinge schränken unsere Selbstbestimmung ein, sie manipulieren uns, vor allem die Werbung in der digitalen Welt. Wir müssen gegenüber solchen manipulativen Strukturen extrem sensibel sein und sie kritisieren. Aber trotzdem müssen und können wir innerhalb dieser Strukturen versuchen, ein autonomes Leben zu führen.

STANDARD: Es gibt Lebensmodelle, die mehr gebilligt werden als andere. Singles kann etwa die Entscheidung schwerfallen, ob sie wirklich in einer Beziehung leben wollen oder nicht, wenn ihnen ihr Singledasein ständig als Problem präsentiert wird. Wie kann man also selbstbestimmt über die eigene Lebenssituation nachdenken?

Rössler: Es gibt verletzbarere Positionen, in denen man sensibler gegenüber der Durchsetzung traditioneller Normen ist. Die einzige Hilfe, die es gibt, ist, sich davon zu befreien – mit anderen zusammen. Soziale Konventionen haben immer diese Doppelseitigkeit: Sie engen uns ein, geben uns aber andererseits auch Freiräume. "Single" ist zum Beispiel ein Begriff, den es noch gar nicht so lange gibt. Es ist ja auch ein Freiheitsgewinn, sagen zu können: Ich bin Single. In den 1960er-Jahren wäre das noch unmöglich gewesen, da wäre man negativ als unverheiratet bezeichnet worden. Man muss also genau hinschauen, was sind Konventionen, von denen man sich relativ einfach befreien kann, und welche Konventionen schränken extrem ein. Und ganz allein kann man sich ohnehin immer nur schwer von solchen Beschränkungen befreien.

STANDARD: Braucht man bestimmte Ressourcen, um darüber zu reflektieren? Zeit, Geld oder Bildung?

Rössler: Ich finde es immer etwas problematisch, zu sagen: "Sie können ja leicht über Autonomie reden", aber der gemeine Mann oder die gemeine Frau wüsste ja gar nicht, was ein autonomes Leben ist. Das halte ich für Unsinn. Ich glaube, alle Menschen denken irgendwann darüber nach, ob das Leben, das sie leben, das Leben ist, das sie leben wollen. Es hilft, Filme zu sehen, Romane zu lesen, es hilft vor allem, mit anderen zu reden. Das sind natürlich auch Privilegien, denn man muss lernen, Romane zu lesen und sie als Quelle von möglichen Lebensformen zu begreifen. Aber es ist ja nicht so, dass nur die Elite Romane liest oder Filme schaut und dass man nicht auch aus anderen Erfahrungen lernen kann. Man braucht im Grunde menschliche Ressourcen wie Nachdenken, Reden und vielleicht auch eine gewisse Selbstdisziplin.

STANDARD: Apropos Selbstdisziplin: Die Frage nach der richtigen Gestaltung des eigenen Lebens lagern manche in Technologien aus. Zum Beispiel Apps, die eine genaue Selbstbeobachtung anbieten, etwa um regelmäßig Sport zu treiben.

Rössler: Das ist ein interessantes Phänomen. Wenn ich mehr Sport machen will und durch fehlende Motivation immer daran gehindert werde morgens zu joggen, dann kann diese Selbstbeobachtung durchaus helfen, in eine Sportroutine reinzukommen. Aber das pure Messen darf man mit der Idee von Selbstbestimmung nicht verwechseln. Denn ich muss ja trotzdem noch nachdenken, etwa ob ich überhaupt so obsessiv meinen sportlichen Leistungen gegenüber sein will. Die Verwechslung des Messens von Leistungen mit den eigenen Gründen, den Leistungen folgen zu wollen, das halte ich für schwierig. Diese sogenannte Quantified-Self-Bewegung macht diesen Fehler bestimmt. Selbsterkenntnis durch Zahlen ist auch ihr Motto.

STANDARD: Aber wie weiß ich denn, ob ich aus einer inneren Motivation heraus laufen will oder nur stets präsenten gesellschaftlichen Empfehlungen folge?

Rössler: Es gibt keine ideale Antwort auf die Frage, wann ich weiß, ob mein Leben selbstbestimmt ist. Schon deswegen, weil wir uns oft selber täuschen darin, was wir können und was wir wollen. Wir müssen immer wieder prüfen, ob das eigentlich das Leben ist, das wir wollen. Wir tun das natürlich nicht täglich, aber wir tun es zum Beispiel dann, wenn es zu bestimmten Entfremdungserfahrungen kommt. Wenn Sie etwa sagen, um beim Beispiel Joggen zu bleiben, "Dieses Laufen verselbstständigt sich, will ich es eigentlich wirklich selbst?", dann klingt das schon nach Entfremdung. Wenn man merkt, da ist so eine Quelle der Unruhe oder Entfremdung, dann sollte man dieser Quelle nachgehen.

STANDARD: Es geht also nicht immer um große Lebensentscheidungen?

Rössler: Nein, deshalb mag ich die Philosophin Iris Murdoch so. Sie beschreibt sehr gut, dass wir nie völlig frei sind bei unseren Entscheidungen und Handlungen, sondern dass wir immer schon in ganz bestimmten sozialen Kontexten, immer schon im Leben stecken. Natürlich kann man das eigene Leben auch prinzipiell infrage stellen – ist das der Beruf, den ich ausüben will, die Partnerin, mit der ich leben will? Aber neben diesen sehr existenziellen Problemen stellt sich die Frage, wie man leben will, auch in viel alltäglicheren Situationen und verlangt auch dann von uns, dass wir uns halbwegs selbstbestimmt verhalten. (Beate Hausbichler, 3.12.2017)