Sopranistin Agneta Eichenholz singt die Lulu, Willy Decker inszeniert.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Sie sind mit der Rolle der Lulu schon lange Zeit vertraut ...

Eichenholz: Ja, aber nach meiner ersten Lulu in London wurde ich zwar oft gefragt, die Partie wieder zu machen, war aber nicht verfügbar. Ich dachte schon, sie käme nie wieder – und plötzlich doch. Deshalb war es für mich ein ganz neuer Beginn mit ihr. Das war ganz am Anfang meiner Karriere – da war ich auf der Bühne wirklich das unschuldige junge Mädchen. Zehn Jahre danach geht das nicht mehr. Deshalb ist es für mich ganz anders, wie ich mit dieser Rolle jetzt umgehe.

STANDARD: Wie gehen Sie denn mit ihr um?

Eichenholz: Gute Frage. (lacht) Ich versuche, etwas für mich ganz Wichtiges herauszubringen. Sie sollte keine Figur sein, die handelt, sondern die nur reagiert – auf die Männer. Sie reagiert auf jeden Mann anders, wenn sie etwas von ihm zu bekommen versucht – das finde ich entscheidend.

STANDARD: Wenn sie eine Frau ist, die ausschließlich reagiert – hat sie dann überhaupt eine eigene Identität?

Eichenholz: Das glaube ich nicht. Sie ist ein sehr starker Charakter, aber sie ist nicht diejenige, die die Geschichte erzählt – auch wenn es von außen betrachtet vielleicht so aussieht.

STANDARD: Die Figur gilt ja als Projektion von Männerfantasien – für den Autor der Vorlage, Frank Wedekind, aber auch für Karl Kraus, durch den Berg das Stück kennenlernte ...

Eichenholz: Das sieht vielleicht von außen so aus, aber ich als Darstellerin muss überhaupt nicht daran denken! Ich muss mich nicht fragen, ob sie wirklich ist oder nur eine Vorstellung – vielleicht ist das so. Aber ich muss sie so spielen, dass sie die ganze Zeit über real ist. Das macht es für mich einfacher. Man kann kein Fantasiebild spielen – für mich ist die Perspektive anders. Manchmal werden mir sehr verzwickte Fragen über die Psychologie in ihr gestellt: Aber auch da ist es dasselbe: Ich muss darüber gar nicht erst nachdenken. Ich versuche nur zu überleben – sowohl als Mensch als auch als Lulu-Figur.

STANDARD: Was ist für Sie das Schwerste daran – die Darstellung oder das Singen?

Eichenholz: Der Grund, warum ich dieses Stück so sehr liebe, ist, dass das Singen wie von selbst kommt, wenn die Darstellung gelingt. Man braucht ein gutes Gefühl für das Timing, dann geht es fast von selbst. Das ist hier einfach wahnsinnig gut komponiert. Bei Mozart ist es natürlich leichter, die Musik zu lernen – obwohl es nicht einfacher zu singen ist. Aber es ist für mich manchmal schwer, dabei zu spielen.

STANDARD: Ist "Lulu" eine feministische Oper? Versucht das Stück, die Figur zu verstehen?

Eichenholz: Ich weiß gar nicht, ob man sie verstehen muss. Aber ich muss etwas dazu sagen: Mich hat die #MeToo-Diskussion sehr bewegt, und ich kann vieles von eigenen Erlebnissen für Lulu einbringen. Vieles von dem, was Lulu macht, entspricht dem, was Frauen die ganze Zeit über tun müssen: Wir müssen versuchen, mit all den Typen von Männern zurechtzukommen, die ihre Macht ausnutzen. In diesem Sinn ist Lulu ein Spiegel der Realität – vielleicht ein Zerrspiegel, aber doch: Auch wenn man sehr zornig ist, bringt man die Männer normalerweise nicht gleich um.

STANDARD: Nicht gleich?

Eichenholz: Hoffentlich nicht, ja. Aber es geschieht viel mehr Befremdliches, als man jemals denken würde, insbesondere in einem frühen Stadium in den Karrieren von Künstlerinnen. Bei meiner allerersten Produktion wurde der Dirigent bei mir zudringlich. Ich war vielleicht etwas naiv, aber ich ging daraufhin zum Chef und erzählte ihm davon, dass ich belästigt wurde. Er tat das achselzuckend ab – und einige Zeit später versuchte er selbst, mich bei ihm zu Hause zu verführen. Man lernt daraus, dass man nie zum Chef gehen sollte, um sich zu beschweren. Man muss als Frau gewieft sein – und man muss das schnell lernen. Man muss einen Weg finden, lachend darüberzustehen und sich auf freundliche Weise abzugrenzen. Natürlich habe ich mit diesen Leuten nie wieder zusammengearbeitet. Aber ich muss auch sagen, dass ich das Glück hatte, nie in eine ganz schlimme Situation geraten zu sein – auch weil ich ein starkes Selbstbewusstsein hatte, um Nein zu sagen. Das ist die Parallele zu Lulu: zu sehen, dass man solchen Männern die Stirn bietet und einfach überlebt. (Daniel Ender, 1.12.2017)