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Das Grundproblem: Die Unterordnung der Sozialpolitik unter die Wirtschaftspolitik.

Foto: REUTERS/Valentyn Ogirenko

Der Stellenwert der Sozialpolitik war in der EU von Anfang an gering. Zwar wurden in den 1990ern einzelne Maßnahmen durchgesetzt, etwa in den Bereichen Arbeitsschutz oder Gleichstellung – aber das Grundproblem war bereits angelegt: Die Abtrennung und Unterordnung der Sozialpolitik unter die Wirtschaftspolitik.

Spätestens mit dem Binnenmarkt und der Wirtschafts- und Währungsunion ab 1990 wurde neoliberale Wirtschaftspolitik der Kern der europäischen Integration. Politiker erzählten, wirtschaftliche Liberalisierung und höhere Profite würden den Lebensstandard aller verbessern. Das stimmt zwar nicht, dient aber seit Jahrzehnten zur Rechtfertigung von Sozialabbau und Privatisierungen. Neoliberale Politik wurde in den EU-Verträgen verankert und den EU-Institutionen zum Auftrag gemacht: Schrankenloser Handel innerhalb und außerhalb der Union ohne Rücksicht auf Unterschiede; Daumenschrauben für die Budgetpolitik statt sozialer und ökologischer Investitionen; Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen wie Post, Energie und Bahn. Die Folgen dieser Wirtschaftspolitik sind sinkende Löhne – vor allem für jene, die ohnehin schon wenig verdienen –, Abbau von Arbeitsrechten und weniger Geld für Sozialleistungen.

Zerstörung sozialer Rechte

Verbindliche Rechtsetzung wie in der Wirtschaftspolitik gab es in der Sozialpolitik nie. Dennoch ist der Einfluss der EU auf soziale Fragen enorm, wie etwa an der Haltung von EU-Kommission und Europäischer Zentralbank (EZB) deutlich wird. 2012 sagte EZB-Präsident Mario Draghi in einem Interview: "Das europäische Sozialmodell ist Geschichte". Dieselbe Haltung findet sich in den Empfehlungen, die EU-Kommission und Rat den Mitgliedstaaten jährlich machen. Fast allen Ländern werden Privatisierungen, Pensionskürzungen und der Abbau von Sozialleistungen nahegelegt.

Im Rahmen der Troika setzten EZB und EU-Kommission in den Programmländern weitreichende Sozialkürzungen durch. Pensionskürzungen in Griechenland, die Senkung von Sozialhilfe und Familienbeihilfe in Irland oder Kürzungen bei Gesundheit und Bildung in Portugal – die Troika-Maßnahmen zerstörten den Sozialstaat und trafen die Schwächsten. Ist das der soziale Erfolg der EU, den die Autoren der Wirtschaftskammer beschreiben?

Soziale Säule bringt nichts Substanzielles

Die Sozialpolitik ist nicht nur wirtschaftlichen Zielen untergeordnet, sie soll "produktiv sein" und dem Standortwettbewerb, also der Konkurrenz der Staaten untereinander, dienen. Dieser Zugang setzt sich jetzt mit der Deklaration zur "sozialen Säule" fort, die die EU-Regierungen in Göteborg beschlossen haben. Sie enthält nichts Substanzielles, sondern nur abstrakte Rechte, die weit hinter anderen internationalen Standards wie etwa denen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zurückfallen. So steht dort etwa, dass nun alle Arbeitnehmer das Recht haben, den Grund ihrer Kündigung zu erfahren (!). Die Deklaration ist zudem rechtlich nicht bindend. Das soll ein großer Schritt nach vorne sein?

Während die soziale Säule also wenig Konkretes enthält, sind ihre Architekten erstaunlich offen was ihre Motive betrifft. Laut EU-Kommission sei die Säule notwendig, weil die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise zukünftiges Wachstum behinderten. Die EU brauche effiziente nationale Arbeitsmärkte und Sozialsysteme, um konkurrenzfähig zu sein. "Effizienz" steht im EU-Sprech für Kürzungen und die Regelung über den Markt. Hier wird erneut deutlich: Sozialpolitik ist weiterhin kein eigenständiges Politikfeld, sondern der Wettbewerbslogik unterstellt. Die wenigen vorhandenen sozialpolitischen Maßnahmen verwenden die europäischen Eliten vor allem, um ihrer neoliberalen Politik einen freundlicheren Anstrich zu verleihen.

So kann es kein soziales Europa geben

Ein "soziales Europa" wird zwar immer wieder beschworen, doch Sozialpolitik ist nur Beiwerk zum neoliberalen Kern der EU. Solange die Wirtschaftspolitik auf Konkurrenz und Profite ausgerichtet ist, kann es kein soziales Europa geben. (Lisa Mittendrein, 1.12.2017)