Manhattan als die Mutter aller Megametropolen.

Foto: Imago / Rainer Mirau

Eine Frau. Ein Mann. Ein Aquarellkasten. Ein Notizbuch. Eine Stadt. Und zwei Tage. Dies waren die Rahmenbedingungen für die kanadische, in New York lebende Künstlerin Leanne Shapton und den deutschen Architekturjournalisten Niklas Maak. Sie nahmen ein Lineal, legten es über einen Stadtplan von Manhattan und zogen eine Linie, von Süd nach Nord, vom Staten Island Ferry Terminal bis zur 220th Street, die sie an zwei Tagen abgingen.

Es sind Vignetten, die Maak auf seiner Stadtwanderung sammelte. Und soziologische Wortschnappschüsse, etwa wenn Maak das Mobiliar bestimmter Plätze als demonstrationsverhindernd identifiziert. Merkwürdigerweise weisen Shaptons Wasserfarben nur eine lockere Verbindung zum Text auf. Dafür entschädigt Maaks leichthändige Darstellung. Plastisch werden die vielen unterschiedlichen Gesichter der Riesenstadt skizziert, die politischen, linguistischen und ethnischen Grenzen.

Städte spürt man, körperlich. Es ist eng. Oft laut. Es herrscht Gedränge: Menschen, Geschäfte, nimmermüder Verkehr. Global betrachtet ist der Zuzug in Metropolen nicht nur ungebrochen, er nimmt immer mehr Fahrt auf. Dort sind, scheinbar, Arbeit, Abwechslung, Aufstieg. Früher machte Stadtluft sprichwörtlich frei. Die Alternative zu armen wie perspektivlosen ländlichen Lebensverhältnissen waren die großen Städte. Megacitys gab es schon immer, auch dunkle Viertel und Slums. Ja, früher waren die innerstädtischen Gegensätze unverhüllter, schärfer und krasser.

Der Umbau Roms und die Wiener Ringstraße

Auch das führt Vittorio Magnago Lampugnani in einem Prachtband vor, der seine 2010 publizierte, soeben nachgedruckte zweibändige Monografie über die Stadt im 20. Jahrhundert ergänzt. Der Städtebauhistoriker, im Sommer dieses Jahres an der ETH Zürich emeritiert, legt hier sein Opus magnum vor, eine editorische Großtat. Man liest sich fest in den Geschichten aus mehr als vier Jahrhunderten. Der Fokus ist ein weitgespannter. Er reicht vom Florenz der Medici bis zum New York der Astors. Den Umbau Roms durch die Päpste ab Ende des 16. Jahrhunderts schildert er ebenso kundig wie Ideal- oder Festungsstädte, Entwürfe für sozialutopische Kommunen und Ideen der Aufklärung spiegelnde Städte in Sizilien und Portugal. Ein Kapitel ist allein der Wiener Ringstraße gewidmet. Die opulente Ausstattung mit 350 überwiegend farbigen Illustrationen verdankt sich der Zuwendung zweier Stiftungen.

Was sich vor allem ab etwa 1850 in Städten einstellte, war eine grassierende psychische Überforderung der städtischen Bevölkerung infolge einer alle Lebensbereiche infizierenden Beschleunigung. Urbanität wurde zum Fall für die Psyche. "Die Idee, dass die geistige Abbildung eines Zuhauses aus dem besteht, was wir sehen, und aus dem, woran wir uns erinnern, hat enorme Konsequenzen für eine psychologisch fundierte Wissenschaft", so der kanadische Neurowissenschafter Colin Ellard, der eine Sektion von Psychogeografie der Neurourbanistik widmet, einen weitaus größeren jedoch der zukünftigen technologischen Umwandlung von Städten. An der University of Waterloo leitet er das Urban Realities Laboratory. Sein Enthusiasmus über virtuelle Realitäten wird auf jeder Seite überdeutlich.

Orte der Lust, Orte der Angst

Von Orten der Zuneigung, der Lust, der Langeweile bewegt er sich zu jenen der Angst und der Ehrfurcht. Er zeigt auf, dass anthropologisch gesehen der Mensch in der Landschaft Schutz und Beobachtung suchte, Absicherung und Fluchtmöglichkeit. Vor allem bei Räumen, die überwältigen sollen, erläutert er schlüssig, wieso Religionen solche Bauten, gewaltige Gotteshäuser und Tempel, errichten ließen. Räume wirken emotional. Das menschliche Gehirn ist unablässig damit beschäftigt, neue Räume zu kartieren, einzuordnen, zu verarbeiten. Das liest sich infolge eines flüssigen Tonfalls recht angenehm. So mancher subjektive Exkurs dagegen mutet nicht selten reichlich überflüssig an.

Manchmal zeigt sich die gesamte Kunst eines Autors bereits bei der Auswahl der Mottos. Iain Sinclair, der seit 40 Jahren das Genre "literarische Psychogeografie" mit Titeln wie Lights Out for the Territory, London Orbital und London Overground pflegt, stellt seinen "wahren Erfindungen aus einer unwirklichen Stadt" einen Satz Don DeLillos über die Überforderung auf den Straßen, woraus sich Gehen ergebe, und einen von John Evelyn voran: "I went againe to the ruins; for it was no longer a Citty".

Hackney, jenes Borough, in dem er so lange gelebt hat, hat Sinclair vor mehreren Jahren zugunsten Hastings verlassen, nachdem er als Stadtchronist so viele Veränderungen, Verletzungen, Fehlentwicklungen und soziale Missstände eloquent beklagte und attackierte wie am Ende resignierend zur Kenntnis nehmen musste.

Vom Verschwinden der Städte

The Last London ist Nachruf und Abschied. Und wohl sein letztes London-Buch. Es zeigt ihn von seiner besten Seite, mal unterhaltsam, mal abschweifend, mal Augen aufsperrend und bitter das Filetieren des öffentlichen Raums anklagend, Überwachung, Privatisierung, das Austrocknen eines radikal freien, antiökonomischen Lebens. Er kann zornig werden. Und melancholisch. Muss er doch feststellen, dass seine Methode, das sprachlich ausschwingende, engagierte Flanieren, ans Ende gekommen ist. Sein London ist ein reduziertes: "for it was no longer a Citty".

Was aber, wenn Städte mehr als nur absinken, sondern zur Gänze verschwinden, so wie Palmyra in Syrien seit rund 1000 Jahren? Nachdem der Franzose Paul Veyne vor einem Jahr ein Requiem auf Palmyra – in der Antike die wichtigste Handelsmetropole zwischen dem Euphrat und dem Mittelmeer und somit ein symbolisch naheliegendes Racheziel des IS – herausgebracht hat, legt nun der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer nach.

Seine Stadtgeschichte ist umfassender, und sie liest sich keineswegs schlechter als Veynes Band. Einzig typografisch ist das Buch ärgerlich: Zu viel Text ist bei engem Zeilenabstand auf die Seiten gepresst. Bei Sommer wird die Archäologie zur erkenntnisverpflichteten Wissenschaft, die sie so gern sein will und so selten ist. Dass die zerstörte Wüstenstadt Palmyra, einst Knotenpunkt einer verflochtenen, also globalisierten Welt und ein "Pluriversum der Identitäten" (Sommer), nie mehr eine "ergiebige Fundgrube des Wissens" sein wird, steht bedrückend fest.

Dafür sind heute andere Städte solche Pluriversen, greifbar, laut, eng, aufregend, fragil, Temperaturanzeigen der Zivilisationen. (Alexander Kluy, Album, 3.12.2017)