Rätselhafte Lulu, von der die Verehrer nicht lassen können: Agneta Eichenholz verleiht der graziösen Dame auch vokalen Glanz.

Foto: Michael Pöhn

Wien – Lulus erster Operngatte, der honorige Medizinalrat, kommt zum Sterben von der Tribüne herab: Er wird über eine Mauer von Düstermännern in Schwarz herabgelassen. Nach seinem Zornesausbruch findet der Medizinalrat schließlich auf dem perplexen Herrn Maler liegend sein Ende.

Lulus Gunst gilt nunmehr dem Pinselkünstler (prägnant: Jörg Schneider). Bevor jedoch auch dieser von der Erkenntnis dahingerafft wird, in Lulus Gefühlsharem keine besondere Rolle gespielt zu haben, dauert es. Vorerst zelebriert Lulu den Abschied vom Erstgatten (Konrad Huber). Sie gönnt sich – über und auf dem Toten – ein kleines Tänzchen.

Das alles hat Willy Decker smart inszeniert – es ist bekannt seit dem Jahr 2000: Damals ließ der deutsche Regisseur in der Wiener Staatsoper eine Premierenmanege als Todeszone für an Lulu sich festkrallende Herren der Erschöpfung entwerfen (Ausstattung: Wolfgang Gussmann). Das war während der Chefzeit von Ioan Holender. Nun ergänzte Decker seine damalige Version der zweiaktigen Fassung von Alban Bergs Lulu um den – von Komponist Friedrich Cerha vollendeten – dritten Akt. Auch dieser war vor Jahren schon (in Paris) zu sehen.

Elegante Meditation über ein geheimnisvolles Wesen

Wie immer das jetzt zu nennen ist – die Zusammenführung von Deckers historischen Wiener und Pariser Ideen ergibt zeitlosen Sinn. Die Inszenierung ist nach wie vor eine elegante, ohne plakative Drastik sich zum Finale hin fortspinnende Meditation über ein geheimnisvolles Wesen, an dem die Männerwelt im Einzelfall zugrunde geht, um es schließlich als Kollektiv zu vernichten.

Agneta Eichenholz braucht ein wenig, um stimmlich Präsenz zu erlangen. Sie wächst jedoch zum tatsächlichen Zentrum der Aufführung heran. Als Projektionsfläche des Begehrens wird ihre Lulu in einer Art Gegenwehr zur verspielten Manipulatorin, in deren Anschmiegsamkeit kühle Berechnung schlummert.

Authentisch scheint die Begegnung mit dem greisen Schigolch (berührend: Franz Grundheber). Echt wirkt Lulus Freude am Untergang ihrer Verehrer: Wenn sie auf dem Klavier liegend Alwa, den Sohn von Doktor Schön (intensiv: Herbert Lippert), mit der Erinnerung an den Tod seines Vaters demütigt, scheint Lulu bei sich. Das Verglühen ihrer Opfer wird ihr zum Genuss. Der Rest ist geheimnisvolle Berechnung.

Virtuose Ausgelassenheit

In Extremszenen ist Eichenholz von virtuoser Ausgelassenheit. Auch verleiht sie dem Siechtum und dem nahenden Ende dieser Lulu vokale Größe, indem sie Poesie und Unmittelbarkeit vereint. Ihre Stimme strahlt eine Klarheit aus, die auch in höheren Lagen die Gipfelpunkte des Expressiven "vergoldet". Gleichzeitig erlangt das Unnahbare dieser Kunstfigur mitunter etwas existenziell Nahes. Dies wird im dritten Akt erlebbar, wo eine Atmosphäre der Dekonstruktion herrscht und die Manege – parallel zur Hauptfigur – auseinanderfällt.

Wände stehen wackelig herum, durch Türen nähern sich Gestalten (vormals Zuschauer). Und in diesem Ambiente der Verwüstung schleicht Jack The Ripper seinem Ziel entgegen (grandios: Bo Skovhus, auch als Dr. Schön): Mit dem Männerkollektiv vollendet er an Lulu das blutige Werk. Tatsächlich liegt Lulu leblos in einem Bilderrahmen; irgendwo auch die sie verehrende Gräfin Geschwitz (souverän: Angela Denoke).

Die finale Adagio-Atmosphäre ist von jener schwebenden Leichtigkeit, die hier als ästhetischer Leitgedanke wirkt. Dirigent Ingo Metzmacher findet mit dem grandiosen Staatsopernorchester zu einem Tonfall, der das Bühnengeschehen zart schimmernd einhüllt, ohne Details ihrer Transparenz zu berauben. Trotz punktueller katastrophischer Entladung dominiert eine atmosphärisch sanfte, genaue Melancholie. Es ist Klangpoesie, die aus klaren Strukturen erwächst.

Großer Applaus für alle, am deutlichsten natürlich für das singende Rätsel Lulu. (Ljubisa Tosic, 5.12.2017)