Es geht mir gut. Ich freu mich, dass ich wieder auf der Schanze stehen darf. Zu Saisonbeginn ist mit dem Seitenbandeinriss kurzfristig etwas dazwischen gekommen. Aber 2016 war ich mit einem Kreuzbandriss neun Monate außer Gefecht, das war eine wirklich harte Zeit. Da ist im Vergleich ein Seitenbandeinriss eher wenig. Ich war dankbar, dass ich nicht wieder im OP-Saal gelandet bin.

"Viele Menschen dort draußen müssen auch sehr hart arbeiten."

Wenn du für ein Jahr aus dem Hamsterrad herausgekommen bist, siehst du Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Dann nimmst du zum ersten Mal das wahre Leben wahr. Während meiner Auszeit hab ich reflektiert, viel über mich nachgedacht. Ich hab tagtäglich an der Gesundheit gearbeitet und gespürt, das ist das Wichtigste. Einer meiner besten Freunde, der Simon, hat es viel schlimmer erwischt im Leben. Er sitzt seit einem Motorradunfall im Rollstuhl, er ist ein großes Vorbild. Man muss die eigenen Probleme relativieren, dann kommt man drauf: Spitzensportler zu sein, ist ein Riesenprivileg.

Ich bin in einer sehr privilegierten Situation. Viele Menschen dort draußen müssen auch sehr hart arbeiten und ihre Leistung bringen, ohne dass sie den großen Erfolg, die Öffentlichkeit und einen finanziellen Nutzen haben. Wenn einem das mit 27 bewusst geworden ist, sieht man die Welt ein bissel anders.

Wenn man eine Sinnkrise hat im Leben, steht man gefühlt vor einer großen Wand und weiß nicht, wie man drüber kommt oder wo die Türe ist zum nächsten Raum. Das hab ich erfahren. Es war eine harte Zeit. Für einen jungen Menschen wie mich, der nur eine Seite gekannt hat, den Spitzensport, das Hamsterrad, war es eine Herausforderung, die andere Seite kennenzulernen, ein unter Anführungszeichen normales Leben zu führen. Ich hab mich zum ersten Mal mit wichtigen Fragen auseinandergesetzt: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich? Wo will ich hin? Will ich das überhaupt noch?

Der Film: "Weitergehen – Gregor Schlierenzauers Weg aus der Krise."

Die Phase durchlebt jeder irgendwann, wahrscheinlich meistens in der Pubertät. Da sammelt man Erfahrungen, da macht man Blödsinn, daran wächst man. Diese Zeit, so ehrlich muss ich sein, hab ich nie gehabt. Aber ich hab mich danach gesehnt. Und jetzt fühl ich mich besser. Gereifter. Die Verletzung kann man sehen, wie man will. Natürlich ist es bitter, wenn man zum ersten Mal das Leben kosten will, genießen, nicht immer nur funktionieren will – und dann verletzt man sich im Skiurlaub schwer. Und plötzlich steht hinter dem Beruf ein großes Fragezeichen.

Die ersten Fragen sind in der Saison 2012/13 aufgetaucht. Zuvor war ich jahrelang erfolgreich, ich hab viel Energie reingesteckt, und dann war ich ausgebrannt. 2012/13 hab ich zum zweiten Mal den Gesamtweltcup gewonnen und dem Matti Nykänen den Rekord an Weltcupsiegen weggenommen. Nach der Saison war ich müde und leer.

"Ich liebe Bewegung an sich, ich liebe es, zu schwitzen."

Doch es war ein Jahr vor den Spielen in Sotschi. Und da sollte ich den Mut haben und eine Pause machen? Ich wollte es schlussendlich nicht, ich hab es nicht getan. In der Olympiasaison war ich mehr im Krampfmodus als im Spielmodus. Es hat sich hingezogen, bis springerisch gar nichts mehr ging. Als auch auf der privaten Seite etwas zu Bruch gegangen ist, ist für mich das Kartenhaus zusammengebrochen. Das war der richtige Zeitpunkt, um zu sagen, jetzt muss ich raus aus dem Rad, sonst wird es gefährlich.

27 Jahre, 53 Weltcupsiege: Gregor Schlierenzauer.
Foto: APA/Gindl

Sehr viele Menschen sind tagtäglich in schwierigen Situationen. Der Unterschied ist halt, dass ich in der Öffentlichkeit steh. Dass darüber berichtet wird, dass Unzählige ihren Senf dazugeben und mitdiskutieren. Damit muss man umgehen können.

Will ich das überhaupt noch oder ist es längst Zeit, einen anderen Weg einzuschlagen? Diese Frage beantwortest du nicht von heute auf morgen, das braucht eine Zeit. Du musst zuerst ganz bei dir sein, damit du dich selbst im Spiegel betrachten kannst. Das hab ich getan. Ich bin draufgekommen, dass der Gregor immer ein extrem sportbegeisterter Mensch war und sich daran nichts verändert hat. Ich hab gespürt, okay, ich brauch das noch, Sport ist mein Leben. Ich liebe Bewegung an sich, ich liebe es, zu schwitzen, zu challengen, zu schauen, wie weit ich gehen kann.

Ich bin privilegiert

Skispringen ist ein unglaublich geiler Sport. Und ich spür, dass es noch nicht vorbei ist. No na ist Olympia 2018 im Hinterkopf und auch eine Triebfeder. Aber der größere Antrieb ist, diese kindliche Freude in mir zu spüren. Ích mach es für mich und für niemanden sonst.

Im Wort Erfolg steckt schon drinnen, dass er die Folge von etwas ist. Wenn man das verstanden hat, kommt man vom Egotrip runter. Als Teenager ist es mir sehr lange gelungen, von Sprung zu Sprung zu schauen, mich auf die Bewegung zu konzentrieren und darauf, dass es sich geil anfühlt. Und wenn mir das gelungen ist, war ich in der glücklichen Lage zu wissen, dass ich ganz oben stehen kann.

"Natürlich hab ich auch nicht immer alles richtig gemacht."

Es geht mir nicht um den 54., 55. oder 56. Sieg. Ich will zweimal unten stehen, die Faust ballen und sagen können, wie geil war der Sprung! Ich habe das Privileg zu wissen, dass es meistens für ganz vorne gereicht hat, wenn mir das gelungen ist. Und wer hat das schon? Viele machen gute Sprünge und kämpfen dennoch darum, vorne dabei zu sein.

Bild nicht mehr verfügbar.

Gregor Schlierenzauer, ein Adler über Innsbruck.
Foto: Reuters/Ebembichler

Das Schöne am Leben eines Spitzensportlers ist es, tagtäglich aufzuwachen und zu wissen, ich kann heute mein ganzes Potenzial abrufen. Mit meinem Körper, mit meinem Kopf. Mir ist das bewusst geworden, dass das ein Privileg ist. Natürlich gibt es auch andere tolle Berufe, aber ich bin besonders privilegiert.

Man springt immer für sich und auch gegen sich. In jungen Jahren hab ich ein Schutzschild gehabt. Es ist nicht so einfach, in der Öffentlichkeit zu stehen. Es prasselt viel auf einen ein. Irgendwann ist man so am Limit, dass man nur das Nötigste tut. Das kann für manche schon auch arrogant rüberkommen, das ist klar. Natürlich hab ich auch nicht immer alles richtig gemacht, mich in der Öffentlichkeit nicht immer richtig verhalten. Mit 16, 17 Jahren musst du Erfahrungen sammeln.

Ich springe einfach gerne

Ich habe mich weiterentwickelt, nicht als Skispringer, sondern vor allem als Mensch. Darum geht es ja im wahren Leben. Schön wär‘s natürlich, wenn es auch im Sport wieder hinhaut. Und ja, dafür geb ich alles.

Ich bin 1,82 Meter groß, mit Sprungzeug wiege ich 65 Kilogramm. Das spielt sicher eine Rolle. Es ist ein Riesenunterschied, ob du nackt 80 Kilogramm hast oder eben 63 oder 64. Mit 80 Kilogramm hast du eine ganz andere Substanz. Aber eine gewisse Leichtigkeit ist in meinem Sport halt immer gefragt gewesen und wird immer gefragt sein.

"Als Kind hab ich gesagt, ich will der Beste werden. Das war dann erledigt."

Es gibt mehrere Phasen im Leben eines Spitzensportlers. Wenn du als Kind mit einer Sportart beginnst, ist das pure Freude. Dann feiert man erste Erfolge. Dann will man größere Erfolge feiern. Setzt man eine Benchmark so wie ich, als ich den Nykänen-Rekord gebrochen hab, so steht man auf einmal da und sagt, okay, jetzt hab ich alles erreicht. Als Kind hab ich gesagt, ich will der Beste werden. Das war dann erledigt. Die, die eine Benchmark setzen, ticken fast alle gleich. Die müssen dann zurück zur Wurzel. Bei mir ist die Wurzel, dass ich es gerne tu, dass ich einfach gerne springe.

Vor Beginn der Premiere der Dokumentation 'Weitergehen'.
Foto: APA/Pfarrhofer

Ich hab viel mit meinem systemischen Ratgeber gearbeitet. Das muss man, um neue Visionen, neue Ziele zu haben. Ich steh mit 27 Jahren eigentlich am Anfang meines Lebens. Da gibt es viele schöne Ziele abseits des Sports. Aber jetzt, jetzt hab ich dem Sport fast alles untergeordnet und will es wieder wissen. Vor knapp zwei Jahren hab ich festgestellt, dass ich keine Antworten habe. Da war ich wirklich am Tiefpunkt. Auch jetzt hab ich nicht auf alles eine Antwort. Aber ich habe mehr Klarheit. Wenn man immer alles wüsste, wär ja kein Reiz da. Es steht Vieles in den Sternen, und das ist ja auch gut so.

Wie lange ich noch springen will? Ich rechne auf jeden Fall bis zur Heim-WM 2019 in Seefeld. Ich werde es so lange machen, solange es mir so viel Spaß und Freude macht, so viel Energie gibt, so lange mich die Jungen nicht verblasen und so lange ich Chancen sehe, mein Potenzial auszuschöpfen und zu gewinnen.

Im Erfolg hast du viele Freunde. Wenn es nicht so gut läuft, nicht so viele. Ich habe gelernt zu filtern. Wer ist da, wenn die Kameras eingeschalten sind – und wer ist immer da? Ich habe drei sehr gute Freunde, alle in meinem Alter. Mit denen kann ich über alles reden. Die sind im Leben angekommen, haben einen normalen Beruf. Natürlich zählt in erster Linie auch die Familie, die war und ist immer da. Aber mit Gleichaltrigen redet man anders als mit Mama und Papa.

Bleibt der Moment, in dem man den goldenen Tourneeadler hochhebt, oder bleibt die Erinnerung daran, was man alles dafür getan hat? Definitiv Zweiteres. Den Adler, der daheim steht, schaut man natürlich gerne an. Aber nach wenigen Tagen ist er staubig. (Zugehört und aufgezeichnet hat: Fritz Neumann, 9.12.2017)