Weder männlich noch weiblich, etwas von beidem oder irgendwo dazwischen: Es gibt viele Variationen der Geschlechtsentwicklung.

Foto: Alexander Schwarzl

Tobias Humer und seine Eltern engagieren sich für Sichtbarkeit und Entscheidungsfreiheit intergeschlechtlicher Menschen in Österreich.

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Kommt ein Kind auf die Welt, fragen alle: Mädchen oder Bub? Elisabeth Humer hat diese Frage nach der Geburt ihres zweiten Kindes nie wieder gestellt. Damals, vor dreißig Jahren, konnte ihr der Arzt nicht eindeutig sagen, ob sie eine Tochter oder einen Sohn auf die Welt gebracht hat. Das Baby hatte sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale – und für dieses "Dazwischen" fand der Arzt keine Worte.

Auch die Hebamme ignorierte engagiert die Besonderheit des Neugeborenen und gratulierte zur Geburt eines gesunden Mädchens. Später, auf dem Standesamt, trug der Beamte in der Geburtsurkunde das Geschlecht "weiblich" ein. Eine dritte Möglichkeit gab es nicht. Das Kind bekam den Namen Theresa. Elisabeth Humer und ihr Ehemann Wilhelm hatten ab da auf dem Papier eine zweite Tochter.

Intergeschlechtlichkeit ist angeboren

Jedes Jahr werden in Österreich 20 bis 25 Kinder geboren, die sich nicht in das System der Zweigeschlechtlichkeit einordnen lassen – sie sind dazwischen, also intergeschlechtlich. Intergeschlechtlichkeit ist angeboren, aber nicht immer von Geburt an sichtbar. Sie manifestiert sich im Chromosomensatz, in den Keimdrüsen oder in den primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen.

Es gibt viele Variationen der Geschlechtsentwicklung. Intergeschlechtlichkeit oder auch Intersexualität ist der Sammelbegriff dafür. Eine im American Journal of Human Biology veröffentlichte Studie geht sogar davon aus, dass 1,7 Prozent der Weltbevölkerung intersexuell sind.

Intergeschlechtlichkeit ist keine Krankheit, wird aber oft medizinisch behandelt. Säuglinge und Kinder werden vielfach irreversiblen geschlechtsverändernden Operationen unterzogen – zu einem Zeitpunkt, zu dem sie selbst weder einwilligen noch ablehnen können. "Die Welt ist bunt! Die gesellschaftliche Norm ist es nicht", heißt es dazu im Positionspapier des 2013 gegründeten Vereins Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (VIMÖ).

Sprachlose Verwirrung

In den 1980er-Jahren in der oberösterreichischen Provinz war die Welt nicht bunt, sondern binär. "Es gab weder Beratung noch Unterstützung – und auch kein Internet, in dem wir uns hätten informieren können", sagt Wilhelm Humer. Dass es Kinder gibt, die weder männlich noch weiblich, etwas von beidem oder irgendwo dazwischen sein können, davon hatten die Humers zuvor nicht gehört.

Auch in den Institutionen herrschte Sprachlosigkeit. Die Ärzte empfahlen, regelmäßig zur Kontrolle ins Krankenhaus zu kommen. Bald hatten die Eltern das Gefühl, ihr Kind werde dort als Schauobjekt herumgereicht. Das wollten sie nicht. Sie beschlossen, das Kind so sein zu lassen, wie es ist. Als die Mediziner zu sogenannten "geschlechtsanpassenden" Maßnahmen rieten, verweigerten sie.

"Damals gab es keinen Begriff dafür. Das Wort ‚intergeschlechtlich‘ kam erst viel später", erinnert sich der Vater. Die kleine Theresa wuchs als Mädchen heran – und die Eltern einigten sich darauf, bis auf die Großeltern niemanden einzuweihen. Auch ihr eigenes Kind nicht.

Tabus wirken unhinterfragt, strikt und bedingungslos. Das Familiengeheimnis hatte fatale Folgen. Kurz vor dem fünfzehnten Geburtstag versuchte Theresa, sich das Leben zu nehmen. Sie wusste längst, dass ihr Körper weder männlich noch weiblich war, auch wenn nie jemand mit ihr darüber gesprochen hatte. Sie sah für sich keinen Platz in dieser Welt. Bei Familie Humer herrschte Ausnahmezustand.

Die Eltern drängten verzweifelt auf schnelle Hilfe, die Ärzte befürworteten einen chirurgischen Eingriff. So wurde aus Theresa per Operation ein Mädchen. Das sei, rein anatomisch, leichter zu bewerkstelligen, hieß es damals. Der Druck auf Theresa, in der Geschlechterrolle zu bestehen, wurde noch größer. Erst Jahre später sollte sie in Berlin die Community der Inter* kennenlernen und endlich Austausch auf Augenhöhe finden. Aus Theresa wurde Tobias.

Zu wenig Offenheit

"Die wenigsten Familien gehen offen mit Intergeschlechtlichkeit um, die meisten Eltern denken nur in männlichen und weiblichen Kategorien", sagt Stefan Riedl. Er ist Kinderarzt an der Med-Uni Wien und beschäftigt sich mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Das Ziel müsse sein, dass Ärzte keine frühen operativen Eingriffe mehr machen.

Bis dato sei man davon noch weit entfernt: Einerseits forderten immer noch viele Mediziner eine rasche Entscheidung für eines der beiden Geschlechter, andererseits sei auch der Normalisierungsdruck in den Familien enorm: "Wir sind immer wieder mit Eltern konfrontiert, die auf eine Operation drängen, weil sie Eindeutigkeit haben wollen."

Da chirurgische Eingriffe als Heilbehandlung gelten, sind sie bisher nicht verboten. Daher bedürfe es gemeinsamer Anstrengungen zur Nichtintervention, abgestimmt auf die Interessen der Betroffenen, sagt der Mediziner.

Ethischer Schutz

Ähnliches empfiehlt auch die österreichische Bioethikkommission. Intergeschlechtliche Menschen müssten künftig vor medizinischen Eingriffen geschützt werden, die nicht ihrem eigenen Wunsch entsprechen, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme des Beratungsgremiums für den Bundeskanzler.

Für Aufsehen sorgte vor kurzem auch die Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichtshofs, der ein drittes Geschlecht im Geburtenregister einführen will. In Australien und Nepal sind Vermerke, die von männlich und weiblich abweichen, bereits möglich. Der Eintrag eines dritten Geschlechts im Personenstandsregister könnte bald auch in Österreich Realität werden. Zumindest hat der österreichische Verfassungsgerichtshof eine diesbezügliche Entscheidung für 2018 in Aussicht gestellt.

Ist die Welt dabei, ihre Buntheit endlich anzuerkennen? Tobias Humer, mittlerweile 29 Jahre alt, arbeitet daran. Als Obmensch des von ihm mitbegründeten Vereins VIMÖ kämpft er für das Recht auf körperliche Unversehrtheit für Kinder und Jugendliche. Für sie und ihre Eltern fordert er "bestmögliche Aufklärung und psychosoziale Unterstützung". Denn: "Noch immer gibt es viel zu wenig entpathologisierende und menschenrechtsbasierte Beratungsangebote."

Auch Elisabeth und Wilhelm Humer engagieren sich bei VIMÖ. Sie sind die Ansprechpersonen für Eltern. Niemand soll sich heute so allein fühlen wie sie damals, als ihr Kind auf die Welt kam. Die Humers wissen, dass Intergeschlechtlichkeit kein Tabuthema in Familien bleiben darf: "Unser Kind ist inter." (Christine Tragler, 9.12.2017)