Christian Kern: Sicherheitspolitik ist nicht rechts. Soziale Sicherheit und öffentliche Sicherheit sind eine Einheit.

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Illustration: Felix Grütsch, https://derStandard.at/Gruetsch

Die Migrationskrise hat Europa nach rechts gerückt. In der öffentlichen Debatte wurden politische Positionen nur mehr anhand dieser Frage verortet. So wurden, ganz dem rechtspopulistischen Drehbuch folgend, die soziale Frage oder die Herausforderungen der Gesellschaftspolitik ausgeblendet.

Folgt man dieser Logik, wäre plötzlich die Linke in Deutschland eine weit rechts stehende Partei, stünden die progressiven Intellektuellen Slavoj Zizek und Ivan Krastev unter Reaktionsverdacht und alle anderen, die für eine Begrenzung der Zuwanderung und eine konsequente Integration von Migranten plädieren, sowieso. Die Frage, was links und rechts ist, anhand der Migrationspolitik zu verorten, ergibt also wenig Sinn.

Aber dieser Diskurs hat das politische Spektrum nach rechts verschoben. Sozialdemokratische Parteien haben schwere Niederlagen in Tschechien, den Niederlanden, Frankreich oder Deutschland erlitten. In Österreich ging der erste Platz verloren, Stimmen und Wähleranteil wurden aber – im Gegensatz zu nahezu allen anderen sozialdemokratischen Parteien – dazugewonnen.

Kein Klassenbewusstsein

Die traditionellen Milieus lösen sich auf, neue entstehen und definieren sich nicht mehr über ihren arbeitsrechtlichen Status. Ein Metallarbeiter in der Voest ist ein klassischer Angehöriger der Mittelschicht. Junge Facharbeiter verdienen oft besser als Jungakademiker und deutlich mehr als EPUs. Von Klassenbewusstsein keine Spur. Identität definiert sich oft kulturell und nicht sozial. Mit Interessenspolitik jenseits des Betriebes lässt sich wenig Eindruck erzielen. In den vergangenen 18 Monaten haben wir beispielsweise die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten erreicht oder erstmals nach zehn Jahren Stipendien für Studierende aus Arbeiterfamilien erhöht, und dennoch war bei Arbeitern das Wahlmotiv Ausländer/Migration besonders ausgeprägt. Das Gefühl, dass für andere mehr da ist.

Ist damit die historische Mission der Sozialdemokratie verbraucht? Mitnichten. 1983 hat Ralf Dahrendorf sein Diktum vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts formuliert, 15 Jahre später waren zehn von damals 15 Ministerpräsidenten der EU Sozialdemokraten. Diese Debatte kehrt immer wieder. Die Idee von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität hat sich allerdings als unauslöschlich herausgestellt.

In historischen Umbrüchen an der Spitze

Weil es immer wieder gelungen ist, sich in historischen Umbrüchen an die Spitze der gesellschaftlichen Entwicklung zu stellen. An einem solchen Umbruch stehen wir auch jetzt. Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel verändern unsere Gesellschaft mit einem Tempo, das sich nur noch steigert.

Wir erleben, dass sich der Gegensatz zwischen Markt und Staat auflöst. Es braucht eine aktive Politik im Verständnis, wie Wohlstand gelingen kann. Sehen wir uns Apple an. Steve Jobs war ein Genie, das Möglichkeiten erkannt hat, die andere nicht gesehen haben. Aber ohne staatliche Interventionen gäbe es kein iPhone. GPS, Touch-Displays, Siri wurden in staatlichen Forschungsstellen entwickelt oder finanziert.

Frage der sozialen Gerechtigkeit

Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel muss Politik aktiv gestalten. Ungezügelt führen diese sonst zur größten Umverteilungsaktion der Geschichte – und zwar von unten nach oben. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit bleibt das unverrückbare Fundament. Aber es braucht auch eine Politik, die die Mitte nicht aufgibt. Eine Politik, die Innovation und Gerechtigkeit verbindet, Chancen nützt und Schutz gibt.

Was ist zu tun?

· Erstens Digitalisierung wird unser Leben verbessern, aber auch Arbeitsplätze wegrationalisieren. Damit einher geht die Erosion der klassischen Erwerbsarbeit. Teilzeitbeschäftigung oder prekäre Arbeit sind schon heute für mehr als eine Million Menschen in Österreich Alltag. Die Finanzierungsbasis des Sozialstaates kommt unter Druck. Progressive Politik muss den radikalen Umbau unseres Sozialstaates einfordern. Eine Entlastung von Arbeitseinkommen und eine Besteuerung von Ressourcenverbrauch, Wertschöpfung und/oder Vermögen. Träumerei von links? Mittlerweile sind fortschrittliche Denker wie Bill Gates Advokaten dieses notwendigen Umbaus.

· Zweitens Digitalisierung führt auch zu einer enormen Machtkonzentration. Facebook, Google, Amazon und Co verfügen über das Potenzial, demokratiezersetzend zu sein. Der Einfluss der Algorithmen ist spätestens seit Trump bekannt. Amazon ist der Konzern, der weltweit am meisten für Forschung und Entwicklung ausgibt. Alphabet/Google haben im Vorjahr 200 Unternehmen übernommen. Alles, was wie ein Wettbewerber aussieht, wird aufgekauft. Zugleich schaffen es diese Konzerne, ihre Steuerschuld auf ein Minimum zu begrenzen. Progressive Politik muss diesen Wildwest-Kapitalismus beenden. Dafür braucht es den Mut, die Macht der Konzerne zu begrenzen.

· Drittens Eine Gesellschaft, in der ein Prozent der Bevölkerung so viel besitzt wie die restlichen 99, kann nicht stabil sein. Es geht also um die faire Verteilung des Wohlstandes. Progressive Politik heißt aber auch, Folgekosten der Ungleichheit zu bekämpfen. Dafür zu sorgen, dass Bildungschancen nicht vom sozialen Status abhängen, Wohnen leistbar bleibt und Frauen nicht nur gleiche Rechte wie Männer bekommen, sondern für gleiche Arbeit auch gleich bezahlt werden.

· Viertens Sicherheitspolitik ist nicht rechts. Progressive Sicherheitspolitik versteht sich umfassend. Soziale Sicherheit und öffentliche Sicherheit sind eine Einheit. Ein starker Staat muss die Interessen der Schwachen wahren. Er muss die Bürger vor Verbrechen ebenso schützen wie davor, dass Alter, Krankheit, Trennung oder Arbeitslosigkeit nicht existenzbedrohend werden.

· Fünftens Progressive Politik heißt, den Klimawandel zu bekämpfen. FPÖ und ÖVP-Mandatare halten ihn ja bis heute für eine Erfindung der Chinesen. Das ist nicht nur retro, sondern auch eine verpasste Chance. Die Transformation unserer Wirtschaft ist ein Hebel, um Wohlstand zu schaffen. Insektensterben und Erderwärmung sind Zeichen an der Wand. Das Verbot von Glyphosat, die Begrenzung von Nitraten und die Abkehr von der industriellen Agrarwirtschaft sind eine Chance. Profitinteressen von Monsanto und Co müssen zugunsten der Erhaltung unserer nachhaltigen Lebensgrundlagen zurückstehen.

· Sechstens Die Globalisierung ist nicht zurückzudrehen. Handel und Export sind die Grundlagen unseres Wohlfahrtsstaates. Unser Ziel müssen progressive Handelsabkommen ohne Sonderrechte für internationale Konzerne mit verbindlicher Durchsetzung unserer hohen Umwelt- und Sozialstandards sein. Verweigerung oder Fundamentalopposition bedeutet, dass uns China und die USA in die Zuschauerrolle drängen.

· Siebtens Progressive Politik heißt, Europa zu stärken. Das Europa der Märkte in ein Europa der Menschen zu verwandeln. Europa braucht eine Steuerpolitik, die Schlupflöcher schließt, eine Sozialpolitik, die Sozialdumping verhindert, eine Fiskalpolitik, die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft. Natürlich einen gemeinsamen Schutz der Außengrenzen und eine gemeinsame Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Progressives Denken heißt, Europa zu stärken, auch um den Preis der Aufgabe eines Stücks nationaler Kompetenz. (Christian Kern, 8.12.2017)