Das Land Tirol will die Missbrauchs- und Misshandlungsfälle im Skisport selbst aufarbeiten. Das hat schon bei den Kinderheimen nicht funktioniert.

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Innsbruck – Es war nicht einfach, nach so langer Zeit zum Telefonhörer zu greifen. Vor gut zwei Wochen tat er es doch. Inspiriert vom Mut von Nicola Werdenigg, die mit ihrem Schritt in die Öffentlichkeit den Missbrauchsskandal im Skisport ins Rollen gebracht hat, wollte auch der Mittfünfziger aus Innsbruck seine Geschichte erzählen. Sie handelt von schweren Misshandlungen in der Skihauptschule Neustift in den 1970ern. Doch als er die vom Land Tirol eingerichtete Opferschutz-Hotline kontaktierte, war dort niemand zu erreichen.

Diese seitens der Landesregierung reflexartig präsentierte Anlaufstelle wurde keineswegs, wie dargestellt, eigens für die Opfer aus dem Skisport ins Leben gerufen. Die Nummer, die zur Kinder- und Jugendanwaltschaft des Landes Tirol führt, wurde schon am 27. August 2012 eingerichtet, als Anlaufstelle für die Heimopfer aus kirchlichen, privaten und Landeseinrichtungen.

Seit zwei Wochen kein Rückruf

Seit dem Bekanntwerden der Fälle im Skisport, namentlich in der ehemaligen Skihauptschule Neustift sowie dem Skigymnasium Stams, ist sie nun wochentags von neun bis 11.30 Uhr besetzt. Doch selbst in diesen zweieinhalb Stunden nicht immer. Die Bitte des Ex-Neustift-Schülers um Rückruf wird seit über zwei Wochen ignoriert: "Ich habe nie wieder von ihnen gehört." Der Mann ist enttäuscht und verunsichert. Nochmals will er sich nicht melden. Er habe das Gefühl, man nehme ihn dort ohnehin nicht ernst.

Ein weiterer ehemaliger Neustiftschüler hat sich ebenfalls an diese Hotline gewandt. Er hat seinen Fall geschildert. Dieser wurde telefonisch protokolliert, doch seitdem passierte nichts. Weder Polizei noch Staatsanwaltschaft noch Land Tirol haben sich bei ihm zurückgemeldet. Man hat ihm auch keine Hilfsangebote unterbreitet. "Ich bin sauer, offensichtlich interessieren unsere Schilderungen eh niemanden", erzählt er dem STANDARD.

Erst fünf Betroffenen haben sich gemeldet

An der zu hohen Fallzahl kann die schleppende Reaktion kaum liegen. Denn laut Auskunft des Landes haben sich bisher fünf von Übergriffen betroffene Personen an die Hotline gewandt. Man nehme deren Schilderungen auf und leite diese – vorausgesetzt, die Betroffenen seien damit einverstanden – an die Strafverfolgungsbehörde weiter.

Für Historiker Horst Schreiber zeigt das Vorgehen des Landes, dass man nichts aus dem sogenannten Heimskandal gelernt hat, der 2010 ebenfalls in Tirol losgebrochen ist. Schreiber war damals Mitglied der ersten vom Land Tirol eingesetzten Expertenkommission zur Aufarbeitung. Schon damals hat man Richtlinien für den korrekten Umgang mit Opfern, die sich melden, empfohlen: "Man sollte den Menschen sofort ein persönliches Gespräch und konkrete Hilfe anbieten." Zudem sollte die Anlaufstelle permanent erreichbar sein. Als es dann um die Entschädigung der Opfer ging, wurde diese Kommission ausgetauscht und neu besetzt.

Tirols Entschädigungspraxis in der Kritik

Heute ist Tirol Schlusslicht, was die Entschädigungszahlungen angeht. Ein ehemaliges Opfer der Innsbrucker Kinderpsychiatrie, an dem Medikamentenversuche durchgeführt wurden, sollte mit 300 Euro abgespeist werden, wie der STANDARD berichtete. Zum Vergleich: Die kirchliche Klasnic-Kommission zahlt durchschnittlich 14.000 Euro pro Opfer. Nachdem der betroffene Mann im November 2016 beim Land Einspruch dagegen eingelegt hat, passierte ein Jahr lang gar nichts. Als er im November 2017 nachfragte, was aus seinem Einwand wurde, bekundete man ihm, dass er nun gar kein Geld erhalte. Auf diese Entschädigungspraxis angesprochen heißt es aus der dafür zuständigen Abteilung Soziales von Landesrätin Christine Baur (Grüne):

"An dieser Stelle möchten wir darauf verweisen, dass es wichtig ist, die unterschiedlichen Fälle getrennt voneinander wahrzunehmen. Tatsache ist, dass das Land Tirol bezüglich der Opfer der Heimerziehung sowie der Kinderbeobachtungsstation Nowak-Vogl eine unabhängige Entschädigungskommission eingerichtet hat, in deren Entscheidungsfindung und deren Festlegung der Entschädigungszahlungen sich LRin Baur nicht eingreifen kann und will. Jeder Fall wird individuell behandelt und entsprechend der Richtlinien entschädigt. Dabei geht es vor allem um die Dauer, Schwere und um die Folgen der Übergriffe. Bei der Konstituierung der Kommission orientierte man sich an der kirchlichen Opferschutzkommission. Vorgaben zu bestimmten Höhen der Entschädigung gab es keine und ist die Festlegung im Einzelfall Aufgabe der Kommission."

Dass es keine Vorgaben zur Mindesthöhe von Entschädigungszahlungen gab, stimmt jedoch nicht. Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) hatte im August 2010 via Medien zugesichert, dass sich Tirol an den Richtsätzen der kirchlichen Klasnic Kommission, die zwischen mindestens 5.000 und maximal 25.000 Euro pro Fall zuerkennt, orientieren werde. Die erste vom Land selbst eingesetzte Kommission unter der Leitung von Schreiber hatte sogar 15.000 Euro als Minimum empfohlen.

In der Tiroler Landesregierung schieben sich die Ressorts Bildung, Soziales und Sport die Verantwortung zu, was die Aufarbeitung der nun aktuellen Fälle aus den Ski-Einrichtungen angeht. Anfragen werden nur schriftlich beantwortet. Kommende Woche soll eine neue unabhängige Expertenkommission, die vom Land eigens für die Aufarbeitung der Fälle im Skisport gegründet wurde, ihre Arbeit aufnehmen. Ob man grundsätzlich bereit sei, diese Opfer finanziell zu entschädigen? Die Kommission werde Hilfestellung für Betroffene sexualisierter Gewalt "thematisieren". (Steffen Arora, 11.12.2017)