In einem großangelegten Forschungsprojekt werden 107 Schüler an Neuen Mittelschulen über ihre Zukunftspläne, Hoffnungen und Zweifel befragt.

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Wien – "Ich bin halt anders als die anderen", sagt Zehra. "Ich mag die Schule. Ich mag auch das Lernen." Die Aufnahmeprüfung für die Ausbildung zur Kindergartenpädagogin hat sie trotzdem nicht geschafft. Aufgeben wird sie ihren Berufstraum aber nicht. Auf den Rat ihrer Lehrerin wird sie es nächstes Jahr wieder versuchen und in der Zwischenzeit eine Hak besuchen. Zehra ist eine von 107 Wiener Schülern an Neuen Mittelschulen (NMS), die in ausführlichen Interviews über sich, ihre Zukunftspläne, ihre Familie, ihre Hoffnungen und Zweifel berichtet haben.

Diese Interviews bergen eine enorme Fülle an Wissen über eine Gruppe von jungen Menschen, die üblicherweise als "benachteiligte Jugendliche mit Migrationshintergrund" in Verbindung mit diversen gesellschaftlichen Problemen wahrgenommen wird. In den Medien tauchen diese Jugendlichen häufig auf – aber sie selbst hat man bislang kaum zu Wort kommen lassen. Im Projekt Wege in die Zukunft wollen Forscher des Instituts für Soziologie der Uni Wien erstmals die Perspektive dieser Jugendlichen einnehmen und ihnen damit eine eigene Stimme im öffentlichen Diskurs geben.

Leben in die Hand nehmen

"Wir betrachten die Jugendlichen nicht nur als 'Betroffene'", sagt Projektleiter Jörg Flecker. "Vielmehr wollen wir uns ansehen, ob und wie sie ihr Leben aktiv in die Hand nehmen und Entscheidungen treffen." Auf fünf Jahre ist dieses umfangreiche Forschungsprojekt angelegt, und die 107 Interviews mit Schülern der vierten Klassen aus fünf Wiener NMS bilden das Fundament für seinen qualitativen ersten Teil.

"Bei diesen Interviews ging es vor allem um die Schulkarriere und den bevorstehenden Wechsel in die Lehre oder eine andere Schule", berichtet Ulrike Zartler, die mit ihrer Kollegin Susanne Vogl bereits die nächste Interviewwelle mit Fokus auf Familie durchführt. "Wir wollen diese spezielle Lebensphase der Jugendlichen differenziert und ganzheitlich betrachten", betont die Familiensoziologin.

Intensive Interviews

Das sei nur durch sehr ausführliche Interviews möglich, weshalb die Gespräche mitunter bis zu vier Stunden dauerten. Die umfangreiche, von insgesamt 73 Forschern und Studierenden durchgeführte Feldforschung an den beteiligten NMS war deshalb auch eine logistische Herausforderung. "Die konnten wir nur mit Unterstützung des Soziologie-Instituts, der Direktoren, der Lehrer und nicht zuletzt des Stadtschulrats für Wien bewältigen", so Zartler.

Anfang 2018 wird zudem eine Fragebogenstudie an sämtlichen Neuen Mittelschulen in Wien durchgeführt, die alle Schüler der vierten Klassen umfasst. Um ihre berufliche und persönliche Entwicklung mitverfolgen zu können, werden die Jugendlichen auch danach einmal jährlich kontaktiert.

Meist werden die Jugendlichen, mit denen sich die Forscher so intensiv beschäftigen, als homogene Gruppe gesehen: in vielerlei Hinsicht benachteiligt und schlecht gerüstet für ein Leben in unserer Gesellschaft. "Es ist uns besonders wichtig, auf die große Vielfalt innerhalb dieser Gruppe hinzuweisen", betont Jörg Flecker.

Alltägliche Entmutigungen

"Es gibt, wie sich in den Interviews gezeigt hat, viele unter diesen Jugendlichen, die ihr Leben sehr aktiv gestalten, die konkrete Pläne für ihre Zukunft haben und die von zu Hause auch Unterstützung bekommen, um diese zu verwirklichen." Am anderen Ende der Skala finde man natürlich auch etliche junge Menschen, die in dieser kritischen Lebensphase völlig auf sich allein gestellt sind, die auf keinerlei familiäre Ressourcen zurückgreifen können. In ihrem Umfeld mangelt es nicht nur an Zeit und Geld für die Unterstützung der Kinder, sondern auch an Engagement und grundlegendem Wissen über Bildungsmöglichkeiten und das österreichische Schulsystem generell.

Entmutigungen sind für diese Jugendlichen eine alltägliche Erfahrung: Wer laufend hört, dass eine bestimmte Schule oder Ausbildung ohnehin "viel zu schwer" ist, glaubt bald selbst daran. "Diese Jugendlichen", so Flecker, "schließen dann viele schulischen und beruflichen Möglichkeiten von vorneherein für sich aus." Damit ist der Weg zum NEET-Jugendlichen (Not in Education, Employment or Training) quasi vorgezeichnet.

Die Interviews haben auch sichtbar gemacht, welche Einflüsse auf die Berufs- und Ausbildungsentscheidungen der durchschnittlich 14-Jährigen einwirken. In manchen Familien ist der Vater das berufliche Vorbild, dem die Söhne mitunter ohne Rücksicht auf eigene Begabungen nacheifern.

Emotionale Ressourcen

Eine große Rolle spielt zudem die emotionale Haltung, mit der die Eltern den Herausforderungen des Lebens begegnen. Wer an ihrem Verhalten sieht, dass man sich von Schwierigkeiten nicht unterkriegen lassen darf, wird seine Ziele meist zäher verfolgen als Kinder ohne diese Erfahrung. Auch nach solchen emotionalen Ressourcen und deren Quellen haben die Forscher in den Interviews Ausschau gehalten. Mitunter vergeblich. "Für manche ist die Familie ein Hindernis", sagt Jörg Flecker.

Wenn etwa die Beaufsichtigung der jüngeren Geschwister wichtiger ist als die Schule. Oder wenn die Eltern aus Unwissen den Traumberuf der Kinder in unerreichbare Ferne rücken, etwa "weil man für die Drogistenlehre bei einem Drogeriemarkt Latein können muss".

Großen Einfluss auf die Jugendlichen haben natürlich auch die Gleichaltrigen, die vom Hörensagen meist ziemlich genau "wissen", welche Schule "schwer" und welche "leicht" ist. Ebenso wie von den Lehrern kommt von dieser Seite viel an Er- und Entmutigung, wie die Interviews belegen.

Fünf Jahre lang werden die Jugendlichen nun einmal jährlich von den Soziologen zu wechselnden Themen befragt. Daraus lässt sich dann ein relativ genaues Bild einer oft allzu undifferenziert als "problematisch" schubladisierten Gruppe ableiten.

Strategien bei Übergängen

"Als Soziologen geht es uns letztlich darum, neue Erkenntnisse über unsere Gesellschaft zu gewinnen", sagt Jörg Flecker. "Durch dieses Langzeitprojekt werden wir beispielsweise viel über die Reproduktionsmechanismen von sozialer Ungleichheit erfahren, indem wir die schulischen, familiären und institutionellen Einflüsse auf die Lebenschancen der Jugendlichen sowie deren Strategien bei den entscheidenden Übergängen in dieser Lebensphase analysieren."

So schaffen die Forscher neues Wissen, das für die Kooperationspartner des Projekts – den Stadtschulrat für Wien, den Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds, die Arbeiterkammer Wien und das Sozialministerium – eine tragfähige Basis für effiziente Maßnahmen bilden soll. (Doris Griesser, 13.12.2017)