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Hannah Arendt.

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Immanuel Kant.

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Erst das Ausagieren von Pluralität lässt uns als Individuen hervortreten.

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Der Ruf nach mehr direkter Demokratie ist gegenwärtig wieder ein Thema. Ein schwieriges Thema, wie es scheint. Denn niemand, der oder die sich einen Demokraten, eine Demokratin nennt, kann ernstlich etwas dagegen haben, dass sich der Anteil an direkter Mitbestimmung der Bevölkerung in demokratischen Entscheidungsprozessen erhöht. Dennoch gibt es da ein Unbehagen. Und man wundert sich, dass es nicht deutlicher ausgesprochen wird. Denn Demokratie heißt ja nicht einfach, über alles abzustimmen und die Politik einer Gemeinschaft nur nach der Mehrheit auszurichten.

Zum Prinzip der demokratischen Herrschaft gehören einige sie notwendig ergänzende Prinzipien, über die sich Vertreter der Philosophie, der politischen Theorie und der politischen Praxis seit Jahrhunderten Gedanken machen. Man sollte meinen, diese Gedanken gehören ohnehin zum ABC in Europa, das auf seine Werte so stolz ist. Saloppe oder ernsthaft betriebene Infragestellungen von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltentrennung sind aber leider nicht nur global gesehen, sondern auch in Europa "im Trend" – und zwar gerade im Namen der Demokratie und dessen, was ein Volk angeblich "wirklich wolle". Deshalb riskiere ich hier einen kleinen Blick auf eine wohlbekannte Tradition, die blass und blutleer werden wird, wenn sie uns nichts bedeutet. Und knüpfe damit an meine Forschung zu Hannah Arendt an, die leidenschaftlich über diese Dinge nachdachte.

Drei Grundgedanken

Ich möchte drei Grundgedanken ins Zentrum stellen. Erstens: Demokratie und Aufklärung gehören zusammen. Zweitens: Demokratie darf nicht die Tyrannei der Mehrheit sein. Und drittens: Demokratische Praxis braucht eine demokratische Kultur und Öffentlichkeit.

Mündige Bürgerschaft statt "Elite" gegen "Volk"

Im ersten Gedanken liegt die Forderung nach mündiger Bürgerschaft, ganz im Sinne von Immanuel Kants Definition der Aufklärung als "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit". Das erfordert Bildung, Kritikfähigkeit und Selbstverantwortung. Und hier liegt auch schon der heikle Punkt. Denn dies riecht nach Ausschlusskriterien der Elite. Und tatsächlich sind viele faktische Ausschlüsse vom demokratischen Prozess – etwa von Frauen, Schwarzen oder der Arbeiterschaft – genauso legitimiert worden. Wer entscheidet darüber, wer "mündig" ist? Auf der anderen Seite heißt das nicht, dass die Befürchtungen, direkte Demokratie könnte besonders in heutigen Zeiten populistisch und manipulativ missbraucht werden, einfach nur "elitär" wären. Wir haben in der jüngsten Vergangenheit zur Genüge gesehen, wie zum Beispiel über soziale Medien gezielt Blasen erzeugt werden können, in denen nur mehr mit "Reiz und Rührung" (Kant) oder gar mit Fake-News statt mit Argumenten gearbeitet wird.

Die Situation scheint einigermaßen paradox, um nicht zu sagen: verlogen. In der Politik will heute niemand mehr in den Geruch kommen, zum "Establishment" zu gehören, das sich der "Stimme des Volkes" entfremdet hat – egal wie rational oder irrational dessen Ängste oder Begehren sind. Also bedient man sich lieber bei diesen Ängsten und negativen Emotionen und hat auch gute Chancen, gewählt zu werden. Dennoch dürfte mit Trump, Brexit und Co auch klar geworden sein, dass die Elite trotzdem oder vielleicht gerade so immer gewinnt.

Demokratische Bildungspflicht

Die grundlegende Forderung nach Aufklärung und Bildung für den demokratischen Prozess darf also kein Ist-Kriterium und damit ein Ausschlusskriterium darstellen. Dennoch muss sie ein unbedingtes Soll-Kriterium bleiben, das demokratische Politik zu prägen hat.

"Bildungspflicht" bedeutet in diesem Sinn nicht nur lesen, schreiben und rechnen zu können (so unabdingbar dies ist!), sondern Urteilskraft zu entwickeln. Diese hat Kant ebenso treffend definiert mit den drei Merkmalen: "selbst denken", "kohärent denken", "an Stelle jedes anderen denken können". Letzteres nennt er "erweiterte Denkungsart". Und diese scheint mir für ein demokratisches Zusammenleben höchst notwendig zu sein, da ich ja auch mit denen auskommen will und muss, deren Meinungen ich nicht teile.

"Mehr" als bloße Demokratie

Der zweite Grundgedanke, dass Demokratie nicht die "Tyrannei der Mehrheit" sein dürfe, wie Alexis de Tocqueville dies formuliert hat, ist im Prinzip der Rechtsstaatlichkeit umgesetzt. Verfassung, Grundrechte, Minderheitenschutz und Gewaltentrennung sind nichts anderes als der Rahmen, innerhalb dessen der demokratische und politische Prozess stattfindet – und Stopptafeln für die Unsinnigkeiten, die Demokratie auch hervorbringen kann. Allen voran die, wonach es im Prinzip der Demokratie beschlossen liegt, dass sie sich selbst abschaffen kann. Oder eben den Rahmen, der sie sinnvoll – das heißt im Sinne der Grund- und Menschenrechte – begrenzt. Insofern ist die Demokratie, die wir in Europa für die Grundlage unserer Werte, unseres Wohlstands und unserer (relativen) Freiheit und Gleichheit halten, immer schon "mehr" als bloß Demokratie. Und dieses "Mehr" geht im Enthusiasmus für mehr direkte Demokratie manchmal etwas unter. Das muss nicht so sein.

Einer der Gründe, warum dies trotzdem tendenziell passiert – antidemokratische Absichten einmal beiseite gelassen –, ist, dass Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit eher kaum die politische Motivationskraft haben, Menschen auf die Straße zu bringen – oder vielleicht erst dann, wenn man wirklich schon im Begriff ist, sie zu verlieren. Sie sind schlichtweg politisch "unsexy", außer eventuell für begeisterte Juristinnen und Juristen. So wie Spielregeln im Grunde nicht für sich selbst interessieren, sondern die Freude am Spiel selbst erst ermöglichen. Doch gerade das sollten wir auch an ihnen schätzen.

Pluralität muss gelebt werden

Dies bringt mich zum dritten Grundgedanken, die Notwendigkeit einer demokratischen Praxis, Kultur und Öffentlichkeit. Dass sich Demokratie selbst abschaffen kann, macht sie fragil. Das heißt auch: Man muss Demokratie schon wollen. Und zwar kontinuierlich. Und auch durch die Phasen hindurch, die aus dem eigenen Blickwinkel falsch oder frustrierend sein können.

Bis zu einem gewissen Grad nimmt uns die institutionelle Rechtsstaatlichkeit die emotionale Arbeit ab, dies ständig selbst begeistert durchhalten zu müssen. Aber ein Halt, der nur institutionell abgesichert und von der Gesellschaft nicht getragen ist, ist immer zu wenig. Deshalb ist auch die "erweiterte Denkungsart" keine Theorie, sondern etwas, das man "tun" muss, und zwar beständig. Und auch Pluralität, um auf Arendts zentrales Thema zu kommen, ist nicht einfach das Faktum, dass wir verschieden sind und unterschiedliche Meinungen, kulturelle und soziale Hintergründe haben. Pluralität muss ausagiert werden und ist insofern ebenso etwas, das wir "tun": im Sprechen, Handeln und Urteilen, in der Debatte, im politischen Prozess und in der Öffentlichkeit.

Demokratie braucht Erfahrungsräume

Arendts Grundgedanke ist, dass dieses Ausagieren von Pluralität uns erst als Individuen hervortreten lässt und insofern enorm wichtig dafür ist, wer wir im Einzelnen und in Gemeinschaft sind. Gegen eine durchökonomisierte Massengesellschaft, die vor totalitären Zügen keineswegs gefeit ist, führt sie deshalb politische Erfahrungen von Pluralität ins Feld. "A Government of Law, not of Men", eines der Axiome der amerikanischen Demokratie (wer würde das heute glauben!), das Arendt so sehr schätzte, bedeutet nicht, dass sich die Menschen nicht beteiligen und miteinander auseinandersetzen. Ganz im Gegenteil. Aber eben nicht nur, indem man ein Kreuz auf ein Papier macht. Sondern in einer demokratisch engagierten und verantwortlichen Weise. Um dies als Lebensform zu kultivieren, brauchen wir Erfahrungen, die wir im Großen und im Kleinen nur mit anderen machen können, und Erfahrungsräume, die uns aus ökonomischen Zwängen und selbstgewählten Blasen freispielen. (Sophie Loidolt, 20.12.2017)