Wien – Wie würde ein Jodler klingen, wenn er in den Alpen geboren, aber von Adoptiveltern in der Stadt aufgenommen wird? Was würde er statt eines Gamsbarts tragen? Vor allem aber, wie würde er sich anhören? Eine mögliche Antwort jenseits von Volks-Rock-’n’-Roll liefert die österreichische Gruppe Alma mit dem Titelstück ihres neuen Albums Oeo: Mit seinen eng geführten Stimmen und von Konsonanten befreiten Jodelsilben erinnert Oeo an Vocoder-Stimmeffekte, wie man sie in der Popmusik etwa von Imogen Heap und ihrem Hit Hide and Seek kennt. Erzeugt allerdings nur mit Stimmen, ohne Synthesizer. Musik, der man ihre Wurzeln anmerkt, die aber darüber hinausreicht und von ihren atmosphärischen Qualitäten das bietet, was die Gruppe selbst gern als "Kopfkino" bezeichnet.

Marlene und Julia Lacherstorfer von Alma im aktuellen Videointerview. 2015 gastierte die Gruppe im Rahmen des STANDARD-Player.
DER STANDARD

"Ich habe mir vorgestellt, dass so eine urbane Form des Jodelns klingen könnte. Natürlich handelt es sich dabei um etwas Erfundenes", so Julia Lacherstorfer, Komponistin, Geigerin und Sängerin des 2011 von ihr ins Leben gerufenen Quintetts. Gleichzeitig offenbart sich in Oeo besonders deutlich das Spannungsfeld zwischen Tradition und Erneuerung, in dem sich die Band bei aller Reflexion erstaunlich unverkrampft und unaufgesetzt bewegt.

"Es ist ein Riesenglück in der Band, dass wir über diese Volksmusiksprache eigentlich nicht reden müssen, weil sie für uns alle etwas sehr Natürliches ist, mit dem wir bald in Berührung gekommen sind", so Lacherstorfer. "Das kann man fast nicht nachholen, finde ich."

Innovation in musikalischen Ideen

Eine Erfahrung, die Lacherstorfer mit ihrer Schwester Marlene teilt, ihres Zeichens Bassistin nicht nur bei Alma, sondern u. a. auch bei Ernst Molden, Clueso oder Velojet: "Es war etwas ganz Natürliches für uns, gemeinsam zu musizieren und mit unserem Großvater am Abend zu singen, das war schon Teil unserer Kindheit." Trotz der eigenen Entwicklung hin zur Popmusik habe sie mit Alma das Gefühl gehabt, "dass es für mich passt, weil es ein zeitgemäßer Ausdruck dieser Musik ist, der mich anspricht". Ein zeitgemäßer Ausdruck, der von der Instrumentierung her weitgehend der Tradition treu bleibt, seine Innovation in musikalischen Ideen sucht.

Eine ausgewiesene Volksmusikexpertin ist mit Akkordeonistin Marie-Theres Stickler an Bord. Ihr Stück Bruckner Rewind markiert mit einer musikalischen Reise durch die Biografie Anton Bruckners ein weiteres Spannungsfeld, das Alma für sich fruchtbar macht: der Gegensatz zwischen Musikantentum und Kammermusik, zwischen Wirtshaus und Konzertsaal. Ausgehend vom Kirchenmusiker Bruckner und seiner Motette Tota pulchra es Maria geht es nach Drücken der fiktiven Rewind-Taste über Sticklers musikalische Brücke zurück zum Wirtshausmusikanten und einem Traunviertler Landler.

Marlene Lacherstorfer, Julia Lacherstorfer, Matteo Haitzmann, Marie-Theres Stickler und Evelyn Mair (v. li.) sind Alma.
Foto: Daliah Spiegel

Dass traditionelle Musik oft gar nichts mit Kitsch zu tun hat, weiß man nicht zuletzt von angelsächsischen Folksongs voll Mord, Totschlag und Rosen, die sich mitten durch Herzen ranken. Nicht anders verhält es sich mit einem Landler, wie ihn Julia Lacherstorfer bei der Albumpräsentation im Gläsernen Saal des Wiener Musikvereins ankündigte: "Ähndl, i dawirg di". Seiner Angst vor Kitsch stellt sich Matteo Haitzmann, der einzige Mann im Ensemble, mit der Komposition Ruhe, in der sich kanonische Kammermusik mit Gameboy-Music verbrüdert.

Contemporary folk music

Welches Etikett darf man der Musik von Alma nun umhängen? Am ehesten sieht sich die Gruppe als Teil jener Strömung, die international gern als "contemporary folk music" bezeichnet wird. Ein Begriff, der übersetzt als "zeitgenössische Volksmusik" nicht frei von Missverständnissen ist und immer wieder zu Überraschungen seitens des Publikums führt, wenn ausgerechnet junge "Volksmusikerinnen" auf der Bühne dem Dirndl-Boom trotzen.

Distanz wahren Alma auch zu überkommener Heimatideologie. Zwar spielt der Begriff im Sinne einer Rückbindung zu den eigenen Wurzeln sehr wohl eine Rolle. Aber so wie Jodeln als eine Art "Welt-Esperanto" verstanden wird, wird Heimat eben nicht in geografischem Sinn, nicht als Beharren auf das Eigene und als Ausschließen alles Fremden gedeutet.

Musikalisch äußert sich dies u. a. darin, wenn die zur Hälfte aus Apulien stammende Sängerin und Geigerin Evelyn Mair das grimmige, traditionelle Liebeslied Questa Mattina durch Mark und Bein gehend interpretiert. Oder Julia Lacherstorfer ihre Liebe zu Dänemark in einem Danske Valse hochleben lässt und die Eindrücke vom Gastspiel in der peruanischen Hauptstadt Lima zum kaleidoskopischen Instrumentalstück Lima Lama destilliert. Nicht alle Musik, die Volksmusik im Namen trägt, schottet sich gegenüber dem vermeintlich Fremden ab. Marlene Lacherstorfer: "Für uns ist Heimat eher etwas Verbindendes, nicht unbedingt etwas Trennendes, kein Blick nach hinten, sondern eher nach vorn." (Karl Gedlicka, 30.12.2017)