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Vladimír Mečiar (links) und Václav Klaus hatten die Teilung der Tschechoslowakei bereits im August 1992 in der Brünner Villa Tugendhat beschlossen (Bild). Am 1. Jänner 1993 entstanden dann mit der Tschechischen und der Slowakischen Republik zwei neue Staaten.

Foto: AP / Igor Zehl

Grenzenloser Jubel in der Sportbar. Bier schwappt aus Dutzenden Gläsern, dem TV-Moderator kippt im Überschwang die Stimme: "Die tschechoslowakische Vorherrschaft im Eishockey dauert an!", brüllt er begeistert ins Mikrofon.

Nüchtern betrachtet ist die Szene nahezu grotesk: Soeben ist das WM-Finale 2002 zu Ende gegangen – die Tschechoslowakei existiert zu diesem Zeitpunkt seit fast zehn Jahren nicht mehr. In einem packenden Match haben die Slowaken mit 4:3 die Russen besiegt. Der Moderator aber ist Tscheche, genau wie die meisten Gäste in der Bar. Die nämlich befindet sich in Prag, der Hauptstadt der Tschechischen Republik, mehr als 250 Kilometer von der slowakischen Grenze entfernt.

Kulturelle und sprachliche Nähe

Die Freude über die "tschechoslowakische Vorherrschaft" geht weit hinaus über nachbarschaftliche Sympathie und gemeinsame Traumabewältigung nach der sowjetischen Okkupation im Jahr 1968, die sich gerade im Nationalsport Eishockey immer wieder ein Ventil suchte. Vielmehr ist sie Ausdruck einer tiefempfundenen kulturellen und sprachlichen Nähe – und einer mental nie ganz vollzogenen Teilung.

Als vor 25 Jahren, zum Jahreswechsel 1992/93, die Tschechoslowakei von der Landkarte verschwand, mitten in Europa neue Grenzstationen den Betrieb aufnahmen und mit Tschechien und der Slowakei zwei neue Staaten entstanden, da war dies das Ergebnis von Verhandlungen auf höchster politischer Ebene. Umfragen hingegen waren sich einig: Hätte es ein Referendum gegeben, so hätten die Menschen auf beiden Seiten die Trennung abgelehnt.

Europa in Bewegung

Über die politische Dynamik, die trotzdem zur Scheidung geführt hatte, wurde seither viel geschrieben und noch viel mehr geredet. Klar ist, dass bereits durch die Freiheitsrevolutionen in Mittel- und Osteuropa, die 1989 den kommunistischen Machtblock zum Einsturz gebracht hatten, viele Grenzen infrage gestellt waren. Die Sowjetunion hatte sich aufgelöst, auf dem Balkan tobten blutige Zerfallskriege, Deutschland hatte sich 1990 wiedervereinigt.

Durch den Wegfall der kommunistischen Klammer wurden auch in der Tschechoslowakei Unterschiede deutlich, die vorher kaum wahrgenommen worden waren. So sorgte etwa die ökonomische Umgestaltung im strukturschwächeren slowakischen Teil zunächst für größere Probleme als in den tschechischen Landesteilen Böhmen und Mähren. Auch die – durch das Wegbrechen der Absatzmärkte im Osten bedingten – Einschränkungen für die überwiegend in der Slowakei angesiedelte staatliche Waffenindustrie nährte dort das Gefühl, man werde von den Eliten in der gemeinsamen Hauptstadt Prag im Stich gelassen. Gleichzeitig verhandelten beide Seiten über die künftige Kompetenzverteilung zwischen den föderalen Behörden und jenen der beiden Teilrepubliken.

"Bindestrichkrieg"

Sogar Name und Schreibweise des gemeinsamen Staates standen zur Disposition; der Streit ging als "Bindestrichkrieg" in die Geschichte ein. Im Februar 1992 schließlich hatte man sich auf die wesentlichen Punkte der Neuordnung verständigt. Die Einigung scheiterte jedoch im Vorstand des slowakischen Nationalrates: Zur Ratifizierung fehlte dort eine einzige Stimme.

Von nun an kannte die Entwicklung nur noch eine Richtung: den Zerfall. Bei den Parlamentswahlen im Juni 1992 siegten die tschechischen Bürgerdemokraten (ODS) von Václav Klaus und die Bewegung für eine demokratische Slowakei (HZDS) von Vladimír Meciar. Beide galten macht- und wirtschaftspolitisch als schwer kompatibel und interpretierten das Ergebnis als Mandat, um über eine Teilung zu verhandeln.

Havels Rücktritt

Wenig später trat Václav Havel als tschechoslowakischer Präsident zurück: "Ich kann nicht die Verantwortung für eine Entwicklung tragen, auf die ich keinen Einfluss mehr habe", erklärte er und verließ hemdsärmelig die Prager Burg. Das endgültige Aus für die Tschechoslowakei besiegelten Klaus und Mečiar im August 1992 in der berühmten Villa Tugendhat in Brünn: Mit Jahresende würden zwei neue Staaten entstehen.

Tenor heute: Tschechen und Slowaken wollten sich nicht trennen- aber sie wussten nicht, wie sie zusammenbleiben konnten. 2004 wurden beide Länder Mitglieder der EU, drei Jahre später fielen mit dem Beitritt zum Schengenraum auch die ungeliebten Grenzkontrollen wieder weg. Dass der neue tschechische Premier Andrej Babiš und die Prager Bürgermeisterin Adriana Krnáčová aus der Slowakei stammen, stört in Tschechien kaum jemanden.

Bürokratische Hürden

Auch die slowakische Journalistin Katarína Brezovská kam 1988 nach dem Studium in die damals gemeinsame Hauptstadt Prag. Um nach der Teilung ohne bürokratische Hürden bleiben zu können, nahm sie die tschechische Staatsbürgerschaft an. "Dass ich meine slowakische Staatsangehörigkeit abgeben musste, ärgert mich bis heute", sagt sie zum STANDARD. Als Ausländerin gefühlt hat sie sich aber nie: "Außer, wenn unsere Mannschaften gegeneinander spielen." (Gerald Schubert, 26.12.2017)