Fedosejew-Carlsen, Schwarz am Zug gewinnt. Aber wie?

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Magnus Carlsen wurde nur Fünfter.

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Viswanathan Anand krönte ein starkes Turnier.

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Wien/Riad – Der Weltschachbund ist wirklich eine ganz spezielle Organisation. Das stellte die FIDE mit der erst im letzten Monat bekanntgegebenen, überraschenden Vergabe der Schnellschach- und Blitzschach-WM an Saudi-Arabien wieder einmal eindrucksvoll unter Beweis. Die amtierende Damen-Weltmeisterin in beiden Disziplinen, Anna Musytschuk, boykottierte das Turnier unter Verweis darauf, dass sie nicht in einem Land anzutreten gedenke, in dem Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt werden – ein Statement, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.

Mit Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik und den US-amerikanischen Großmeistern Hikaru Nakamura, Wesley So und Fabiano Caruana verzichtete auch ein nicht unwesentlicher Teil der Weltspitze der Herren auf eine Teilnahme (dem Vernehmen nach allerdings vorwiegend aus terminlichen Gründen). Einer Reihe von Spielern aus Israel, dem Iran und Katar wurde zudem im letzten Monat das Visum verweigert, obwohl die FIDE sich zuvor noch mit einem Deal mit den saudi-arabischen Behörden gebrüstet hatte, der Spielern aus aller Welt die Teilnahme ermöglichen hätte sollen.

Politische Partie

Von einer Weltmeisterschaft im eigentlichen Sinn kann unter solchen, nicht wirklich als sportlich zu bezeichenden Ausgangsbedingungen kaum gesprochen werden. Dass größere Aufregung oder ein breiterer Boykott ausblieben, wird Kenner der Schachszene allerdings wenig verwundern: Seit Kirsan Iljumschinow, Ex-Präsident der russischen Teilrepublik Kalmückien, die FIDE regiert, ist der Weltschachbund mit Diktatoren und zwielichtigen politischen Regimen generell auf Kussfuß. Von Saddam Hussein über Muammar al-Gaddafi bis zu Syriens Baschar al-Assad reichten Iljumschinows freundschaftliche Bemühungen, dem Schach abseits der westlichen Machtzentren zu mehr Unterstützung zu verhelfen und möglichst große Summen in die nicht eben prall gefüllten Kassen der FIDE zu spülen.

Auch Schachprofis mit intaktem Rückgrat mussten somit unter Iljumschinows Ägide schon lange anerkennen, dass sie ihre Mindestanforderungen an politische Hygiene drastisch abzusenken hatten. Wer ein wenig darüber Bescheid weiß, wie viel starke Großmeister unterhalb der Top Ten der Weltrangliste durchschnittlich verdienen, wird ermessen können, wie verlockend der saudi-arabische Köder eines Preisfonds von über zwei Millionen US-Dollar in diesem Fall außerdem war. Die 250.000 US-Dollar Preisgeld für Platz eins im Schnellschach-Bewerb der Herren dürften leicht ein Vielfaches des sonstigen Jahresgehalts der meisten von Turnier zu Turnier ziehenden Schachnomaden ausmachen.

Nicht aus der Verantwortung zu entlassen sind allerdings jene nationalen Verbände, die Iljumschinow in der FIDE trotz zahlloser Skandale und Peinlichkeiten seit 1995 konsequent die Stange halten. Auch der österreichische Schachbund gehörte in der Vergangenheit stets zu den verlässlichen Unterstützern des kalmückischen Sepp Blatter, der die letztjährige WM im klassischen Schach in New York City weder eröffnen noch besuchen durfte, weil er inzwischen auf einer Sanktionsliste des US-Finanzministeriums steht – aber das ist eine andere, ebenso peinliche Geschichte.

Carlsen in Riad

15 Runden Schnellschach wurden in den vergangenen drei Tagen in Riad dann trotzdem gespielt. Magnus Carlsen war mit von der Partie und aufgrund seines Deals mit dem norwegischen Fernsehen, das jede Regung des Weltmeisters live in die skandinavischen Wohnzimmer überträgt, wieder einmal unabhängig von seinem Turnierrang dauerhaft auf Brett eins gesetzt. Wie schon im vergangenen Jahr schien dieses Arrangement dem Champion allerdings kein Glück zu verheißen: Ausgerechnet gegen den Chinesen Bu Xiangzhi, der Carlsen bereits einigermaßen überraschend aus dem diesjährigen Worldcup eliminiert hatte, schoss der Weltmeister in Runde eins einen kapitalen Bock und startete mit einer Weißniederlage ins Turnier.

Der junge Russe Wladimir Fedossejew, einer der Aufsteiger des Schachjahres 2017, nutzte die Gunst der Stunde und setzte sich mit viereinhalb Punkten aus fünf Partien nach Tag eins an die Spitze. Zu ihm gesellte sich am Ende des zweiten Tages Ex-Weltmeister Vishwanathan Anand aus Indien. Der bereits 48-jährige Vorgänger Carlsens auf dem Schach-Thron hatte diesem in Runde neun nämlich seine zweite Weißniederlage im Turnier zugefügt und Carlsens Aufholjagd damit vorübergehend brüsk gestoppt.

Erst am dritten, finalen Tag schien der Weltmeister ganz zu seinem Spiel zu finden. Mit Schwarz besiegte er Fedossejew im direkten Duell in Runde zwölf mit einer guten Prise Endspiel-Magie. Der Russe hatte die gesamte Partie lang versucht, ein Remis abzuklammern und schien damit Erfolg zu haben – bis Carlsen eindrucksvoll demonstrierte, dass auch ein Endpsiel mit Randbauer und "falschem" Läufer nicht immer unentschieden enden muss.

Nach diesem Erfolg aber ging der Nummer eins der Weltrangliste überraschend der Saft aus. Zwei langweiligen Remispartien ließ Carlsen – vor Runde 15 ex aequo mit Anand in Führung liegend – seine dritte Weißniederlage gegen Sascha Grischtschuk folgen, was ihm statt des erhofften, ja erwarteten WM-Titels nur Rang fünf im Endklassement bescherte.

Drei Sieger

Und dann zeigte die FIDE noch einmal, warum sie so eine besondere Organisation ist: Anand, Fedossejew und Nepomnjaschtschi lagen nach 15 Runden mit 10 ½ Punkten auf dem geteilten ersten Platz – und etwa eine halbe Stunde lang wusste niemand, wer nun Schnellschach-Weltmeister war. Zwar lag der Inder laut Klassement in der Zweitwertung voran, aber im Internet hielten sich hartnäckige Gerüchte, wonach der Titel erst noch in einem Blitzschach-Tiebreak (sic) ausgespielt werden sollte.

Auch die offiziellen Kommentatoren des Live-Streams, der von Millionen Schachfans in aller Welt verfolgt wurde, hatten keinen Schimmer, wer nun wirklich gewonnen hatte, und waren drauf und dran, sich mit der Ankündigung vom Publikum zu verabschieden, dass ein Sieger wohl spätestens morgen feststehen werde – ein für ein Sportereignis dieser Größenordung sicherlich einzigartiger Vorgang.

Anand mit Tiebreak, Ju ohne

Aber dann wurde doch noch rasch getiebreakt: Jan Nepomniaschtschi durfte nicht mitspielen, Vishwanathan Anand schob Wladimir Fedossejew in zwei Partien à drei Minuten plus zwei Sekunden Zugbonus überzeugend vom Brett und kürte sich damit paradoxerweise zum Schnellschach-Weltmeister. Nach Wassyl Iwantschuk im vergangenen Jahr stiehlt somit noch einmal ein alter Herr dem jungen Gemüse die Show. Ob Magnus Carlsen die Scharte bei der morgen, Freitag beginnenden Blitz-WM halbwegs auswetzen kann, wird sich weisen. Anand und Fedossejew sind nach ihrem Tiebreak nun schon eingeblitzt, haben also Trainingsvorsprung.

Im Damenbewerb feierte die Chinesin Ju Wenjun mit 11 ½ aus 15 einen beeindruckenden Start-Ziel-Sieg und darf – in Anna Musytschuks Abwesenheit – nun auch als Favoritin auf den Titel im Blitzschach gelten. Hinter Jus Landsfrau Lei Tingjie belegte die deutsche Spitzenspielerin Elisabeth Pähtz einen starken dritten Rang.

Sieger und Siegerin der morgen beginnenden Blitz-WM werden nach 21 zu spielenden Partien am Samstagabend feststehen – wenn der Weltschachbund so will. (Anatol Vitouch, 28.12.2017)