Bei der Berichterstattung über Verbrechen stellen sich für Medien auch immer wieder ethische Fragen. Während Trauernde vor dem Tatort in einem Supermarkt in Kandel Blumen ablegen, zeigen diese Fotografen, wie man es besser nicht macht.

Foto: APA/dpa/Arnold
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Ist der Mord an einem 15-jährigen Mädchen nachrichtlich relevant genug, um in der wichtigsten Nachrichtensendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gemeldet zu werden? Die "Tagesschau" der ARD sieht sich mit einer Welle der Kritik konfrontiert, weil über den gewaltsamen Tod einer Jugendlichen in der pfälzischen Stadt Kandel mehr als einen Tag lang nicht berichtet wurde. Konkret musste sich die Redaktion den Vorwurf gefallen lassen, dass der Grund für das Nichtmelden die Herkunft des Täters sei – der angeblich ebenfalls 15-jährige Abdul D. stammt aus Afghanistan, sein Asylantrag soll abschlägig beschieden worden sein. Erst nach massiven Beschwerden wurde der Fall am Donnerstagabend doch noch gemeldet. Die Redaktion der "Tagesschau" erklärt ihr Schweigen in ihrem Blog damit, dass es sich bei dem Verbrechen um eine "Beziehungstat" handle. Die "Tagesschau" berichte "In der Regel nicht über Beziehungstaten". Außerdem handle es sich um Jugendliche, "die einen besonderen Schutz genießen".

Déjà-vu

Bereits vor einem Jahr sah sich die Redaktion der "Tagesschau" ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt. Im Fall der Vergewaltigung und Ermordung einer Studentin in Freiburg hatte sie ihr Schweigen damit argumentiert, das Verbrechen hebe sich nicht von anderen Mordfällen ab. Der Chefredakteur der ARD-Sendung "Aktuell", Kai Gniffke, schrieb damals in seinem Blog, die "Tagesschau" berichte über "gesellschaftlich, national und international relevante Ereignisse. Da zählt ein Mordfall nicht dazu." Auch die afghanische Herkunft des mutmaßlichen Täters habe nichts mit der Entscheidung zu tun.

Interessanterweise berichteten jedoch damals wie heute auch renommierte internationale Medien wie die "New York Times" und die "Washington Post" über die Verbrechen, noch bevor die wichtigste deutsche Nachrichtensendung diese genügend relevant für eine Meldung erachtete.

Schmaler Grat zwischen Zurückhaltung und Bevormundung

Grundsätzlich ist eine zurückhaltende und sensible Berichterstattung begrüßenswert, die Medien sollten sich bei der Gewichtung ihren Meldungen nicht von Emotionen leiten lassen. Sie sollten dabei aber niemals aus den Augen verlieren, dass ihre Konsumenten mündige Menschen sind, die eine Bevormundung durch das Ausfiltern verstörender Ereignisse nicht brauchen. Zwar argumentiert der deutsche Pressekodex gegen die Nennung der Herkunft von Tätern, außer es bestehe ein "begründetes öffentliches Interesse". "Besonders zu beachten" sei, dass "die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte". Die Wahrheit ist den Menschen jedoch prinzipiell immer zumutbar. Eine Berichterstattung, die sich an den bloßen Fakten orientiert und dabei weder etwas ausschmückt noch weglässt, kann daher nichts falsch machen.

Das Weglassen von Fakten aus Sorge, radikale Gruppierungen könnten die Ereignisse für ihre Zwecke instrumentalisieren, ist in jedem Fall der falsche Ansatz. Damit leitet man nur die Menschen zu jenen Kanälen um, in denen sie die Informationen finden, die sie suchen – oft sind diese dort aber vermischt mit bewusster Meinungsmache. Damit wird die gutgemeinte Bevormundung zu einem Bumerang: Wer entsprechende Details wissen will, findet diese anderswo, die Glaubwürdigkeit des eigenen Mediums erleidet jedoch einen nachhaltigen Schaden.

33-jähriger Minderjähriger

Daran, dass der Mordfall in Freiburg selbstverständlich eine gesellschaftliche und auch eine politische Relevanz hat, bestehen mittlerweile keine Zweifel mehr. Die bei den Ermittlungen und Gerichtsverhandlungen bekanntgewordenen Fakten zeigen, dass die Herkunft des Täters sehr wohl eine gewichtige Rolle spielt. Bei ihm handelt es sich definitiv nicht um einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, als der er via Balkanroute über Österreich nach Deutschland eingereist war. Medizinische Untersuchungen weisen darauf hin, dass er bei der Tat jedenfalls deutlich älter als 21 Jahre gewesen sein muss. Der inzwischen im Iran ausfindig gemachte Vater des Afghanen gab gar 1984 als Geburtsjahr seines Sohnes an.

Auch in dem Fall in Kandel gibt es starke Zweifel am Alter des Täters. Der Vater der Getöteten vermutet ein deutlich höheres Alter: "Er ist nie und nimmer erst 15 Jahre alt." Dies ist zunächst einmal bei der Bewertung des Verbrechens als Mord oder Totschlag und bei der Bemessung des Strafrahmens von Bedeutung. Falls der Täter tatsächlich erst 15 Jahre alt sein sollte, ist bei beiden Tatbeständen der Strafrahmen mit zehn Jahren gedeckelt. Wenn der Täter aber als Heranwachsender von 18 bis 20 Jahren oder als Erwachsener eingeordnet wird, liegt das Strafmaß deutlich höher.

Politisch brisanter Fall

Durch die derzeit laufende Debatte über die Neuregelung des Familiennachzugs von Flüchtlingen erhält die Überprüfung der Altersangaben des Afghanen aber auch politische Brisanz. Die Regierung hatte den Familiennachzug für subsidiär Geschützte Anfang 2016 ausgesetzt, die Regelung läuft im März 2018 aus. Das Thema wird ein Knackpunkt bei den am 7. Jänner startenden Sondierungsgesprächen zwischen den Unionsparteien und der SPD.

Aufseiten der Union hatte zuletzt CDU-Vize Armin Laschet entgegen seiner Parteilinie Kompromissbereitschaft gezeigt, indem er ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts, das die Regierung verpflichtet, einem 16-jährigen Flüchtling den Familiennachzug zu ermöglichen, als eine "gute Formel" bezeichnete.

Wenn nun aber erneut offenbar wird, dass über dem Alter angeblich minderjähriger Flüchtlinge ein großes Fragezeichen steht, da jahrelang verabsäumt wurde, die Identitätsangaben der Eingewanderten zu überprüfen, wie soll dann ein großangelegtes Familiennachzugsprogramm in geordneten Bahnen ablaufen? Auch die Fälle des Berlin-Attentäters Anis Amri, der sich mit zahlreichen Identitäten registrieren ließ, und des rechtsextremen Bundeswehroffiziers Franco A., der sich eine Identität als syrischer Flüchtling zulegte, machten die Blindheit der Behörden auf drastische Weise sichtbar.

Der Tod der 15-Jährigen in Kandel hätte unter Umständen verhindert werden können und bringt die Behörden in Erklärungsbedarf. Die Familie des Mädchens hatte Abdul D. angezeigt, da er der Jugendlichen gedroht und sie gestalkt hatte. Der Polizei war Abdul D. bereits wegen einer Körperverletzung in der Schule bekannt, eine Vorladung ignorierte er.

Noch immer schwebt der Schatten von Angela Merkels Mantra "Wir schaffen das" über der Migrationsthematik. Die geschäftsführende Bundeskanzlerin glaubte zum Höhepunkt der Migrationsbewegung im Jahr 2015 offenbar, die vielzitierte "Willkommenskultur" und die Offenheit der Bevölkerung reiche, um die Krise in den Griff zu bekommen. Doch gute Stimmung ist kein Krisenmanagement.

Ebenso wenig wie Medien ihre Berichterstattung auf Emotionen gründen sollten, dürfen sich Regierungen in ihrer Politik auf Emotionen stützen. Dies sorgt zwar oft kurzfristig für Beliebtheit und ein Umfragehoch, doch die Realitäten lassen sich nicht dauerhaft verdrängen. Einwanderungsbehörden und Exekutive hingegen wurden vor unlösbare Aufgaben gestellt und im Stich gelassen – diese erhielten nie die personellen und rechtlichen Voraussetzungen, um "das" zu "schaffen". Ob eine Neuauflage der großen Koalition das Ruder herumreißen kann, darf bezweifelt werden. (Michael Vosatka, 29.12.2017)