Laura Freudenthalers "Die Königin schweigt" ist ein Roman über das Erzählen, er zeigt uns, wie das Erzählen zu unserem Leben gehört, wie es entsteht und wo sein Ort ist.

Foto: Marianne A. Boriwiec

Laura Freudenthaler, "Die Königin schweigt". € 20 / 208 Seiten. Droschl-Verlag, Graz 2017

Foto: Droschl

Eine alte Frau bekommt von ihrer Enkeltochter ein Buch mit leeren Seiten geschenkt. Nur auf der ersten Seite steht die Eintragung, dass die Großmutter in dem Buch ihre Erinnerungen aufschreiben soll. Die Königin schweigt ist dieses Buch. Aber die Frau, um deren Leben es geht, hat keine einzige Zeile in dieses Buch geschrieben, der Romanfiktion nach ist die Enkeltochter als Erzählerin eingesprungen. Was wir vor uns haben, ist nur auf den ersten Blick die Biographie einer Frau, die im letzten Jahrhundert gelebt hat, einer Bauerntochter, aufgewachsen in den 1930er-Jahren in einer Landschaft, die das Mühlviertel sein könnte. Man vergisst beim Lesen auch ganz auf die Erzählfiktion, weil man entdeckt, dass die Schönheit dieses Romans, die einem nachgeht, mit der Frage zu tun hat, die das Erzählen antreibt, es ist die alte, immer wieder neue Frage: "Wie man denn leben soll".

Sie wird nicht in einem ausgeleierten biographischen Modell abgehandelt, sondern ist durchgehend im analytischen Geist der Untersuchung gegenwärtig. Die Erzählung erforscht die Lebensgeschichte einer Frau, Fanny, die im Buchtitel "die Königin" genannt wird, einer Königin als Witwe und Pensionistin, deren Mann, der "Schulmeister" eines Dorfes, verunglückt ist. Manchmal wird Fanny, als sie nach dem Tod ihres Mannes längst in der Kleinstadt lebt, noch als "Schulmeisterin" angesprochen. Einmal sagt ihre viel jüngere Freundin Hanna, die der alten, dem Gedächtnisverlust ausgesetzten Frau hilft, beim Abschied zu ihr: "Schau auf dich, Schulmeisterin."

Rettende Gesten und Worte

Auf sich schauen, das sagt eine Frau zu ihr, die als Kind von Fanny, der Schulmeisterin, gerettet wurde. Auf sich schauen und sich um die andern kümmern, das wird in vielen kleinen Geschichten herzergreifend und nüchtern erzählt. Der Roman ist aus vielen kürzeren Erzählzusammenhängen komponiert, die man als kunstvolle Studien über das, was rettet, verstehen kann. Es geht in ihnen um die kleinen Gesten und Worte, die einem aufhelfen und die im Grund genommen kühne Taten sind.

Der Titel erinnert an ein Märchen, weil die Märchen wussten, dass es Königinnen auch in ärmlichen, bedrückten und bedrohten Verhältnissen geben kann. Das moderne, an die sozialen Aufklärer und analytischen Erforscher der traumatischen Gewalt erinnernde Schreiben in diesem Roman kann sich auch selbst als Beitrag zum Königreich des Erzählens verstehen, denn es bringt ein wenig Glanz in eine sonst verlorene, gleichgültige Welt, die viele Verletzungen bereithält. Der Roman liest sich streckenweise wie eine nachdenkliche Sammlung von Verletzungsgeschichten. "Man stirbt nicht an jeder Verletzung", sagt Fanny zu ihrem Sohn, dessen eigene innere Verletzung, was nur angedeutet wird, darin liegt, dass er, der Schulmeistersohn, den jähzornigen Vater zum Lehrer gehabt hatte.

Die Königin schweigt ist ein Roman über das Erzählen, er zeigt uns, wie das Erzählen zu unserem Leben gehört, wie es entsteht und wo sein Ort ist. In den kleinen epischen Studien zur Genealogie des Erzählens finden wir unsere eigenen kindheitlichen Bilder, in denen unvergessliche Erfahrungen angelegt sind. Sie erscheinen einem heutzutage nur noch wichtiger im globalen Raum der sich in alle Lebenszusammenhänge hineindrängenden Informationen und erfahrungslosen Bilder, die, kaum dass sie aufgetaucht sind, schon wieder weggewischt und gelöscht sind.

Der Weg ins Freiere

Als Kind liebte es Fanny, mit dem Bruder unter der Eckbank des Stubentisches zu sitzen oder zu liegen – ein seit jeher für die Genese des Erzählens prädestinierter Ort, der hier weiblich konnotiert ist. Unter der Eckbank, wo sich alle Gerüche, Geräusche und Stimmen der Bauernstube verdichteten, sahen die Kinder die verborgenen Bewegungen der endlich entspannten Beine der um den Tisch sitzenden Erwachsenen, und manchmal wusste Fanny an den Beinen der Mutter abzulesen, dass sie oben "ruhig wie träumend" saß, und unten erholten sich die Beine von dem "Gerenne", "als lächelten und murmelten sie manchmal im Schlaf". Dort unten, im Verborgenen eines anderen, märchenhaften Lebens, kauerten die Geschwister.

Oben aber sagte der Vater zu Fannys Mutter, die ihn dabei nicht ansah, über Fanny: "Wie ein Hund liegt sie da unten", denn am schlimmsten war für ihn "ein Mensch, der den aufrechten Gang aufgab". Der Vater nahm "an einem Menschen dessen Haltung wahr". Diesem einseitigen Blick, ob sich jemand "gerade hielt", begegnet die Erzählung mir ihrer Hinneigung zur Kreatur und zum kreatürlichen Daliegen und mit der Aufmerksamkeit für die vielen Formen, auf den Hund zu kommen. Und doch muss Fanny auf andere Weise auf der aufrechten Haltung bestehen, sie muss sie sich immer wieder zurückerobern, wenn sie von Zuständen der Verlorenheit erfasst wird, von Schwindelgefühlen und von Anfällen, bei denen sie jeden Halt zu verlieren glaubt und sie sich kaum wieder "in den Griff bekommen" kann.

Als alte Frau geht ihr immer öfter auch der Halt in der Ordnung der Zeit verloren, und es geraten ihr die Zeitschichten der Erinnerung durcheinander. Zur Kunst des Erzählens gehört das Nachdenken über die Erfahrung der Zeit und das Zeitvergehen, das Erzählen erschafft ja selbst eine eigene Ordnung der Zeit. Das Wegbrechen der Zeiten, das zeitweise gänzliche Verlassensein vom Zeitgefühl, auch das Erlebnis der Todesnähe, das Umgebensein von so vielen Toten, wird von der jugendlichen Erzählerin dieses Buchs aus der Innenperspektive von Fanny, ihrer Großmutter, zu erfassen versucht. Dadurch ist die konkrete Person, die Enkeltochter, nicht mehr sie selbst, sie hat sich in "das Erzählen" verwandelt, das mehr ist, weiter reicht, so wie das Kind unter dem Tisch, ohne die Mutter zu sehen, mehr weiß von deren unausgesprochenem Wunsch, aus dem "Gerenne" und der Mühsal befreit zu werden.

Erinnerung an die Mühsal einer Lebensform

Denn nicht zuletzt ist Die Königin schweigt eine Erinnerung an die Härte und Mühsal der von Besitz und patriarchalischer Autorität bestimmten bäuerlichen Lebensformen, die sich erst seit dem Beginn der Modernisierung der Landwirtschaft um die Mitte des letzten Jahrhunderts zu verändern begannen. Die epische Gerechtigkeit in diesem Buch übergeht nicht, was die abgerackerten Männer den anderen und sich selbst angetan haben, aber sie weiß auch um die verstörende Derealisierung und den Persönlichkeitsverlust, den dieser notwendige moderne soziale "Strukturwandel" für die vielen im alten Bauerntum Befangenen und Gefangenen bedeutete.

Zweimal die Woche war Fanny als junge Frau den stundenlangen Weg vom Dorf in die Kleinstadt gegangen, um dort die Hauswirtschaftsschule zu besuchen. "Mehr als die Hälfte des Weges legte sie zurück, weg von der lautlosen Erstarrung auf dem Hof in der Senke, ehe sie auf einer Erhöhung kurz ausruhte." Die lautlose Erstarrung auf dem Hof hatte mit dem Krieg begonnen. Mit der Entscheidung für eine Fortsetzung ihrer Schulausbildung, die der Vater guthieß, war die Bauerntochter aus dem alten Herkommen hinausgegangen, es war ihr Weg, ins Freiere und Offenere zu gelangen, den die Erzählung auf allen Ebenen unterstützt, auch indem sie dem Aufatmen und dem Blick in die Weite das Wort überlässt. Von der Anhöhe aus schaute Fanny "über die Hügel, die sich vor ihr ausbreiteten und ihre Rücken hoben und wieder senken ließen", und sie sieht die Gliederung der Landschaft und die aus Steinen geschichteten Wälle zwischen den Feldern und Wiesen: "Diese grauen Steine brachten die ganze Gegend hervor. Aus ihnen baute man die Höfe, die Ställe, die Grenzen und die Grabmale. Auf ihnen ruhten die Felder mit ihren Buckeln und Senken. Mittendrin lag manchmal ein Findling, ein riesiger Felsblock, den niemand jemals wegbewegen konnte." (Hans Höller, 30.12.2017)