Leidenschaftlicher Einsatz, solange es der Körper noch zulässt: der Aktivist Sean (Nahuel Pérez Biscayart) in "120 BPM".

Foto: Thimfilm

Regisseur und Ex-Aktivist Robin Campillo 2017 in Cannes.

Foto: APA

STANDARD: Sie waren selbst Teil der Act-Up-Bewegung, die seit den 1980er-Jahren für die Politisierung von Aids gekämpft hat. Warum hat es so lange gedauert, bis daraus ein Film wurde?

Campillo: Das wird eine lange Antwort! Als man von der Epidemie in Frankreich rund um 1982 erfuhr, begann ich gerade mit der Filmschule. Die ersten Bilder von Aidskranken empfand ich damals als viel stärker als jene des Kinos. Es war der Anfang eines Kampfes zwischen dem Kino und dieser Epidemie in meinem Kopf. Ich war damals 20 Jahre alt, ein junger Schwuler, und viele sagten, dass die meisten von uns sterben würden. Es fühlte sich an wie ein Bombengeschwader, das immer näher rückte. Das Kino, das ich liebte, die Nouvelle Vague, fühlte sich dagegen nutzlos an, denn es handelte von gesunden Menschen. Die einzige Ausnahme war Agnès Vardas Cléo de 5 à 7, der meinem Gefühl nahekam.

Edition Salzgeber

STANDARD: Das heißt, Sie haben sich für Act Up und gegen das Kino entschieden?

Campillo: Zunächst einmal lebte ich in konstanter Abwehr dieser Angst. Ich war weder in der Lage, ein sexuelles Leben zu führen, noch Filme zu machen. Das änderte sich erst, als ich 1992 zu Act Up stieß, zehn Jahre später also. Ich war so wütend, dass man uns abgestempelt hatte, es aber immer noch keine klaren politischen Statements gab.

STANDARD: Was hat die Arbeit bei Act Up bei Ihnen bewirkt?

Campillo: Ich habe mich dort neu erfunden. Es war kreativ und eine Bewusstseinsbildung. Dank Laurent Cantet bin ich später als sein Autor zum Kino zurückgekehrt. Ich habe schon vor 15 Jahren ein Drehbuch über Aids geschrieben, das mich aber nicht überzeugte. Irgendwann realisierte ich, dass ich diesen Moment des Umschwungs thematisieren musste, als wir uns gemeinsam dazu entschieden, nicht mehr die armen schwulen Opfer zu sein. Wir wurden zu Akteuren und haben die Wahrnehmung in der Bevölkerung verändert.

STANDARD: Betrachten Sie den Film als Zeitstück, als Rekonstruktion dieser Ära - oder geht es für Sie um dieses persönliche Anliegen?

Campillo: Es ist seltsam, ich habe den Film nie als historisches Stück geplant. Der Film ist ganz Erinnerung. Ich war in einem seltsamen Stadium damals, ich habe alles in meinem Kopf aufgezeichnet. Ich wollte diese Substanz hernehmen, sie in eine Architektur überführen. Es ging mir nicht um Bedeutung, sondern um die Suche nach einer Form und Perspektive. Ich wollte wissen, wie es damals funktioniert hat.

STANDARD: In einem anderen Interview haben Sie die Form mit einem Gehirn verglichen.

Campillo: Der Film befindet sich für mich in einer seltsamen Dimension. Mit dem Gehirn habe ich die Amphitheaterszenen im Hörsaal gemeint, ich war richtig obsessiv, wollte unbedingt vermeiden, dass es Fenster gibt. Die Debatten der Aktivisten sollten abgeschlossen wie in einem Kopf sein. Menschen tauschen sich aus, stellen sich Dinge vor, die es noch nicht gibt. Aktionen, Slogans, Plakate. Fast wie Halluzinationen – mir gefiel diese Idee, dass das Gehirn diese Bilder produziert. Dann gibt es noch diese Dimension des Nachtclubs, das Negativ dazu – alles ist dunkel, niemand spricht mehr, es gibt nur noch Körper.

STANDARD: Halluzinationen gibt es ja auch noch an anderer Stelle im Film: einen gewissen Sinn für eine überhöhte, fiebrige Realität.

Campillo: Ich habe ein Problem mit Ästhetiken, bei denen man alles weiß und durchschaut. Wir befinden uns hier gerade in einer bestimmten Dimension, und Sie sind wahrscheinlich nicht genau die Person, die Sie sind. Es gibt noch andere Dimensionen. Wenn man krank ist oder verliebt, ist man nicht derselbe. Man hat eine andere Wahrnehmung. Ich mag es, Filme wie eine Substanz zu denken, die zwar realistisch scheint, aber bei der sich Dimensionen verändern lassen. Ich liebe es, manchmal wegzudriften, Perspektiven zu entdecken.

STANDARD: Wenn Sie die damalige Bewusstseinsbildung mit heute vergleichen: Sehen Sie irgendwo ähnliches Potenzial?

Campillo: Der Vergleich fällt verheerend aus. Es gibt zwar diese Versuchung, auf Facebook etc. eine Art politischen Diskurs zu formen. Aber das ist kraftlos. Dass diese Leute glauben, sie seien radikal, ist lachhaft. Ein Text auf Facebook verschwindet in einem alternativen Universum, darüber können Macron und Trump nur glücklich sein. Ich war dreißig, als diese Gruppe geschaffen wurde – eine seltene Chance. Ich habe ein Jahr gebraucht, bis ich mich zu reden traute. So etwas ist schwierig, denn es ist ein Ort der Selbstermächtigung.

STANDARD: Sind die Themen heute zu abstrakt?

Campillo: Ja, und ich glaube, man muss einen Unterschied zwischen Anlässen und Kämpfen machen. Tierrechte zu verteidigen ist ein Anlass. Act Up konnte man eher mit dem Kampf von Frauen für das Recht auf Abtreibung vergleichen. Es geht um Existenzielles. Wir brauchten Disziplin, um unseren Diskurs zu formen. Wir mussten erst eine Strategie finden. Ich habe dabei gelernt, dass man aus der Komfortzone heraustreten musste. Das hat mich inspiriert. Man muss Freude daran haben, wenn andere in dein Leben einmarschieren. Als Betrachter des Films bedeutet das, dass man verlorengehen kann. Es geht darum, sich selbst zu vergessen. Das ist der Unterschied zum Internet, wo es am Ende egal ist, ob man Politisches postet oder ein Hundefoto.

STANDARD: Sie erzählen auch die Liebesgeschichte zwischen Sean und Nathan. Verkörpern sie zwei Seiten des Kollektivs, eine radikalere, existenzielle und eine andere, die eher pragmatisch ist?

Campillo: Es gibt zwei wichtige Kontraste im Film, den zwischen Sean und Thibault, dem Sprecher der Truppe, und den zwischen Sean und Nathan. Ersterer dreht sich um die Frage des Auftretens und der Vermittlung. Sean ist theatralischer, ein militanter Akteur, der an Repräsentation glaubt, solange sein Körper involviert ist. Thibault ist in seinen Augen zu sehr der Kommunikationsstratege. Aber es geht weniger um die Frage Radikaler gegen Lobbyist als um die Frage, ob Repräsentation oder Verkörperung. Für mich sind die kleinen Unterschiede sehr bewegend. Es berührt einen schwierigen Punkt, denn selbst in den 1980er-Jahren wusste ich genau, welche meiner Freunde sterben würden. Man wusste, wer sich am Leben verbrennen wird. Ich gehörte nicht dazu. Ich habe mich geschützt – Nathan ist so wie ich.

***

Kurzkritik zu "120 BPM": Zurück auf der Seite des Lebens

Blut ist rot, und Farbe erhöht Sichtbarkeit. Eine erste Intervention der Aidsaktivisten von Act Up steht am Beginn des Filmdramas 120 BPM (Beats Per Minute). Die Bühne eines Kongresses wird gestürmt, um dort auf die Versäumnisse der Politik und der Pharmaindustrie aufmerksam zu machen. Einem der Aktivisten gleitet ein Farbbeutel im Eifer des Gefechts zu rasch aus der Hand. Er zerplatzt auf dem Gesicht des Vorsprechers. Später, im Hörsaal, wird auch darüber diskutiert, wie viel Gewalt in der politischen Bewusstseinsbildung zulässig ist.

Das Erste, was einem an Robin Campillos Zugang zur Pariser Vergangenheit der 1990er-Jahre auffällt, ist die soziologische Genauigkeit, mit der er diese Debatten einfängt. Er nimmt sich Zeit, divergierenden Positionen im Plenum Gehör zu verschaffen. Er zeigt, wie mühselig sich Konsensfindung vollzieht, wie schwierig es ist, eine Strategie zu finden. Campillo hat schon als Drehbuchautor für Laurent Cantet (Die Klasse) gezeigt, wie virtuos er Stimmen einfängt: Hier haben sie den Nachdruck von Menschen, für die das Leben auf dem Spiel steht.

Doch 120 BPM ist viel mehr als ein Film über eine gelungene politische Selbstermächtigung. Er ist auch eine tiefempfundene Feier des Lebens. Campillo war selbst Aktivist, und er will von einem Perspektivwechsel erzählen, der einen im Angesicht einer tödlichen Gefahr wieder auf die Seite des Lebens bringt. Vom energetischen Aktivismus über das Tanzen in Clubs bis zum Sex, der schon fast wie eine Trotzreaktion erscheint. Man will sich das alles nicht nehmen lassen.

Durch die Liebesgeschichte zwischen dem vorsichtigen Nathan (Arnaud Valois) und dem lebenshungrigen Sean (Nahuel Pérez Biscayart), bei dem die Krankheit in der Mitte des Films voll ausbricht, kommt das Füreinander-da-Sein noch auf persönliche Weise zur Geltung. Irgendwann ist die Seine blutig rot, und kurz weiß man nicht, ob es ein Traum oder doch eine weitere Aktion der Act-Up-Truppe ist. (Dominik Kamalzadeh, 1.1.2018)