Allem Anschein nach braucht der Mensch Rituale. Wie bei ziemlich allem, was wir tun, stecken dahinter wohl evolutionär-soziale Steuerungsmechanismen. Wenn sich die Notwendigkeit hinter einem Ritual überlebt hat (oder es sie gar nie gegeben hat), man es aber dennoch beibehält, erspart man sich Sinnfragen und -debatten durch ein einfaches Wort: Tradition.

Darum fragt auch niemand, welchen Grund und welchen Sinn – abgesehen vom Spaß an der Sache – es hat, zu Silvester landauf und landab Silvesterläufe abzuhalten. Von Hintertupfing bis Wien – gefühlt –, von Palermo bis Reykjavík: Am 31. Dezember rennt man im Kreis. So als ob diese paar Kilometer all das, was man an Sport- und Laufvorsätzen 364 Tage zuvor gefasst und dann heuer dann leider doch nicht umgesetzt hat, wettmachen könnten.

Foto: Thomas Rottenberg

Dass es auch in Wien einen Silvesterlauf gibt, versteht sich von selbst. Heuer fand der Lauf zum 41. Mal statt. Mit über 4.650 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wird er in Österreich "größter Silvesterlauf Europas" genannt – und weil es mühsam wäre, das europaweit nachzuprüfen und es vollkommen wurscht ist, lassen wir das hier jetzt einfach so stehen. Wenn anderswo ebenfalls Europas größter Silvesterlauf stattfindet, tut das in Wirklichkeit niemandem weh: Die Gruppe derer, die sich nur wegen des Superlativs auf die Ringstraße stellt, dürfte relativ klein sein.

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Ganz abgesehen davon ist der Lauf rund um den Ring fein. Ganz egal, ob man die 5,4 Kilometer sportlich und knackig oder lediglich als spaßigen Lauf mit netten Menschen anlegt. Egal ob verkleidet oder in "zivilem" Laufgewand: Hier und heute geht es um den Spaß. Darum, zu zeigen, dass Volksläufe das Gegenteil von ehrgeizig-verkniffenen Veranstaltungen sein sollen. Das ganze Jahr über – aber als Jahresabschlussparty ganz besonders.

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Wobei es in Wien in Sachen Partymachen durchaus Luft nach oben gibt: Bei "großen" Läufen strahlt diese Stadt im internationalen Vergleich in puncto Euphorie entlang der Strecke – abgesehen von drei oder vier neuralgischen Punkten – einen mattiert-trüben Dunkelglanz aus. Was die Freude am Verkleiden angeht, ist den meisten Wienern der Life Ball schon genug Trubel – und auch da schaut man ja lieber zu, als mitzuspielen.

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Verstehen Sie mich nicht falsch: Jede und jeder, wie er will – und gerade beim Sport oder beim Tanzen ist die Frage nach Funktionalität und Zweckmäßigkeit von Kleidung durchaus zulässig: Mit einer absolut luftundurchlässigen Plastikhülle, die schon beim Gehen die Schrittlänge halbiert, oder einem dicken Niki-Plüsch-Overall wird Laufen auch auf kurzer Strecke rasch zum Sauna-Event.

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Es gibt noch einen weiteren selbstverliehenen Superlativ des Wiener Silvesterlaufes. Den unterschreibe ich voll und ganz: Die 5,4 Kilometer rund um den Ring sind Europas schönster Silvesterlauf. Punkt. Schlicht und einfach, weil ich Wien mag – nicht nur als Läufer. Aber der Ring ist schon während des Jahres und bei regulärem Autoverkehr eine schöne Laufroute – oder eben ein Teil davon. Und der touristisch relevante Teil der Ringstraße, also die Strecke von der Oper bis zur Uni ein Stück Stadt-Lauf-Landschaft, für das man anderswo schon ziemlich weite Site-Running-Strecken in Kauf nehmen muss.

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Den Ring dann alle heilige Zeiten auf der Hauptfahrbahn zu belaufen, ist noch einen Tick feiner. Ganz besonders dann, wenn man dieses Stück nicht am allerletzten Drücker auf Autopilot mit allen Tanks und Reserven auf Rot und zum Beat der Laktatparty eines (Halb)-Marathon-Schlussstückes rennt, sondern einfach locker vor sich hin trabt. Und das Wetter statt Winter Ostern spielt.

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Ganz abgesehen davon hat man ja auch einen Unterhaltungsauftrag. Für sich selbst, den Rest der Welt. Ganz besonders für all jene, die in und hinter jeder Aufgabe einen Wettkampf sehen – und aus diesem mega-verbissenen Setting dann nicht einmal in Situationen aussteigen können, bei denen es auch für sie selbst um genau gar nix geht: beim Anstellen an der Supermarktkasse etwa oder beim Einsteigen in den Bus.

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Laufen ist da eh noch die einfachste Übung – aber ein gutes Übungsfeld. Versuchen Sie es zunächst mal bei sich selbst: Seien sie so richtig grantig – und lächeln Sie dabei. Und dann ziehen Sie sich ein Einhornkostüm an und rufen "Einhornpower!", wenn Sie beim Laufen auf andere Einhörner stoßen: Das ist zwar vollkommen sinnbefreit, befreit aber Sie und alle um Sie herum ziemlich zuverlässig von einer ganzen Menge Ballast, der die Mundwinkel nach unten zieht. Innerlich wie äußerlich.

Foto: Thomas Rottenberg

Wobei ich zugebe: Aufblasbare Plastikkostüme aus dem Webshop sind da nur halb so originell wie eine Story, die man sich selbst überlegt – und über eine ganze Ringrunde durchzieht.

Etwa die von der Karotte, die dem Hasen ständig vor der Nase herumtanzt und die er nie erwischt und genau deshalb läuft und läuft und läuft: Hase und Karotte waren meine persönlichen Kostümfavoriten am Ring.

Auch wenn es nicht ganz den Insta-Regeln des On-the-go-Storytellings entspricht, wenn sich der Witz eines Schnappschusses nicht im ersten Augenblick und ganz ohne Text von selbst erklärt.

Foto: Thomas Rottenberg

Eines stimmt aber in jedem Fall: 5,4 Kilometer sind keine Welt-, sondern eben nur eine Ringumrundung. Wenn man halbwegs regelmäßig Sport macht und – das vor allem – gesund ist, schafft man das auch dann, wenn man kein Bewegungsjunkie ist.

Genau das macht einen Lauf wie den Silvesterlauf wichtig: Das Erfolgserlebnis motiviert. Wird – eventuell – zum Vorsatz, der über die Silvesternacht reicht. Und vielleicht schafft es der eine oder die andere ja sogar, den Vorsatz auch umzusetzen. Wenn nicht 2018, dann eben 2019. Spätestens. (Thomas Rottenberg, 4.1.2017)

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