Immer wieder verblüfft der Albaner Ismail Kadare durch seine meisterliche Erzählkunst. Und immer aufs Neue schiebt sich der Schatten seiner Botmäßigkeit gegenüber der Diktatur Enver Hodschas vor sein brillantes Lebenswerk. Dazu hat er selbst mit allerhand Legenden und Mystifikationen beigetragen, die seine Stellung als privilegierter Autor und Parlamentsabgeordneter im stalinistischen System Albaniens verschleiern sollten.

Tatsächlich war Kadare ein Equilibrist zwischen Anpassung und Distanzierung auf dem hochgefährlichen Terrain eines totalitären Willkürstaats. Für einen Künstler galt es da vor allem, sein Werk zu retten. Das ist dem Autor auf eindrucksvolle Weise gelungen. Die mehr als dreißig Romane, die der 1936 im südalbanischen Gjirokastra geborene Ismail Kadare verfasst hat, sichern – nicht zuletzt durch ihre Übersetzung in mittlerweile mehr als vierzig Sprachen – seiner Heimat einen markanten Platz auf der Landkarte der Weltliteratur.

Die verlorene Tote

Wie abgeschieden im Hades, dem Totenreich der Antike, erscheint uns mittlerweile der untergegangene Kommunismus Ost- und Südeuropas. Keiner kehrte im Mythos wieder – außer Orpheus, der seinen Blick zurücklenkt auf die Geliebte Eurydike, die er sodann verlorengeben muss. In Kadares im Original 2009 erschienenen Roman Die Verbannte heißt die verlorene Tote Linda und war eine jener zahllosen Frauen, die von Albaniens kommunistischer Diktatur im eigenen Land an einen entlegenen Ort deportiert wurden.

Geliebte war Linda allerdings nur in ihrer eigenen Einbildung: Fern der Hauptstadt Tirana träumte die wegen ihrer aristokratischen Abkunft als Klassenfeindin Exilierte vom glanzvollen urbanen Leben, das sie mit dem verehrten Schriftsteller Rudian Stefa in Verbindung brachte.

Der wird eines Tages ins Haus des Parteikomitees vorgeladen, zu einem Gespräch, dessen Thema ihm zunächst verborgen bleibt. Der erfolgreiche Dramatiker vermutet einen Regelverstoß wider den vorgeschriebenen "sozialistischen Realismus". Oder, was für ihn schwerer wiegen würde, eine Anzeige seiner jungen Geliebten, die er im Streit mit dem Kopf gegen ein Bücherregal gestoßen hat.

Doch nichts von alldem wird ihm vorgeworfen. Beinahe unergründlich bleibt für ihn, was der Geheimdienst von ihm will. Bis die Rede auf den Selbstmord einer gewissen Linda B. kommt, die zwar ein Buch mit einer persönlichen Widmung von Rudian Stefa bei sich trug, dem Dramatiker aber gänzlich unbekannt ist.

Opportunist in der Sinnkrise

Beim nächsten Liebestreffen gesteht seine Geliebte Migena, dass sie ihm einst die Widmung für ihre ferne Freundin Linda B. abgerungen hat. Die Affäre mit Rudian hatte Migena offenbar vorsätzlich begonnen, um der Freundin in der Ferne zu Gefallen zu sein. Das alles erfährt Rudian jeweils nur stückweise von Migena, die sich ihm immer wieder entzieht, um zu ihrer verbannten Freundin aufs Land zu fahren. Den Dramatiker, der sich vergebens mit der Abfassung eines Arbeiterdramas abmüht, stürzen die geschilderten Wahrheiten über das System in eine tiefe Sinnkrise, die seinen halbherzigen Opportunismus kräftig erschüttert.

In totalitären Systemen, das zeigt Kadares vorsätzlich verschachtelter Roman eindringlich, bleiben die Opfer in einen Irrgarten von Vermutungen, Täuschungen, Ungewissheiten verbannt, während die Täter, von der Macht geschützt und weitgehend anonym, unerfindlich im Kollektiv aufgehoben bleiben. Das gilt fatalerweise zumeist sogar über die Lebensdauer der Systeme hinaus.

In Die Verbannte betreibt Kadare literarische Gedächtnissicherung. Gewidmet hat er das Buch allen "albanischen Mädchen, die in der Verbannung auf die Welt kamen, aufwuchsen und zu Frauen wurden". Rund 60.000 Menschen waren im kommunistischen Albanien interniert, berichtet der landeskundige Übersetzer Joachim Röhm im informativen Nachwort. Dazu kamen 34.000 aus politischen Gründen in Gefängnissen und Arbeitslagern Inhaftierte. Andere Quellen nennen bis zu 300.000 Betroffene. Viele davon durch Sippenhaft an einen entlegenen Wohnort verwiesen.

Der Roman endet mit dem Sturz von Enver Hodschas monumentalem Standbild 1991 auf dem Skanderbeg-Platz in Tirana. Vom Fenster aus beobachtet der Schriftsteller die Szene: "Das Geheul der Menge wogte herauf." Übrig bleiben die von der jahrzehntelangen Willkür gezeichneten Menschen. "Die meisten sind unter der Erde, dachte Rudian. Mit zerbrochenen Gliedern, blutverschmierten Gesichtern und Giftkapseln in der Hand. Mit ihnen ins Reine zu kommen war fast unmöglich."

Die Verbannte ist ein düsteres Buch über eine finstere Zeit. Es trägt zur Erhellung unseres Wissens über Willkür und Lebensfeindlichkeit eines autoritären Regimes bei. (Oliver vom Hove, Album, 7.1.2018)