Im ersten Teil dieser Serie – eine Replik auf den Kommentar des Politologen Floris Biskamp zu meinem Buch "Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten und die eigene auch nicht" – ging es um die Frage, ob das Reden von uns Linken über den Islam mit linken Positionen zu tun hat – oder ob Linke, wenn sie über den Islam reden, nur auf die Rechten reagieren, wie Biskamp suggeriert.

Dabei hatte ich die Veränderung linken Denkens und Handelns – weg von klassentheoretischen, hin zu identitätspolitischen Konzepten – vor dem Hintergrund sozialer und ökonomischer Entwicklungen der letzten vier Jahrzehnte zu analysieren versucht. Konzepten, in denen die Gesellschaft durch unauflösliche Differenzen "kultureller Identitäten" geprägt zu sein scheint, in denen Widersprüche zwischen verschiedenen sozialen Klassen ein und derselben "Kultur" oder zwischen Subjekten und "ihrer" Kultur keinen Platz haben. Und in denen Individuen auf "ihre" Kultur reduziert – und als eigenständige Subjekte aus dem Diskurs eliminiert werden.

Kulturalistisches Denken dieser Art, das aktuell nicht bloß den linken, sondern die Gesamtheit politischer, gesellschaftlicher und kultureller Diskurse zu beherrschen scheint, zeigt sich auch und gerade in der Art, wie über Menschen aus islamisch geprägten Gesellschaften gesprochen wird. Anders als noch in den 1990er-Jahren werden Individuen aus Ländern mit islamischer Bevölkerungsmehrheit heute häufig "auf einen einzigen Faktor" reduziert, "und zwar auf den der Religion".

Die erste Kaisermühlnerin in der Bundesregierung

Dass diese volle Identifizierung von Gesellschaften und Subjekten mit dem Islam also keineswegs auf einen Abwehrreflex der Linken gegen den Diskurs der neuen Rassisten reduziert werden kann, wie Biskamp suggeriert, ließe sich an zahllosen konkreten Beispielen zeigen.

An Muna Duzdar etwa, bis Ende 2017 Staatssekretärin in der österreichischen Bundesregierung mit palästinensischem "Migrationshintergrund" und laut Selbstdefinition "nicht praktizierende Muslima". Duzdar wurde immer wieder – auch in Qualitätsmedien wie dem STANDARD – auf ihr tatsächliches oder vermeintliches "Muslimsein" reduziert und mit diesem tatsächlichen oder vermeintlichen "Muslimsein" voll identifiziert.

"STANDARD: Sie sind das erste Regierungsmitglied mit muslimischem Glauben [...].

Duzdar: Es ist richtig, dass ich einen muslimischen Background habe, aber warum muss ich darüber definiert werden? Ich bin nicht deswegen Staatssekretärin. Genauso [...] bin ich auch die erste Kaisermühlnerin in der Bundesregierung. Beides ist bemerkenswert, aber es ist nicht die Hauptsache".

Als Staatssekretärin war Duzdar unter anderem für Beamte und für Digitalisierung zuständig – das schien aber kaum jemanden zu interessieren. Im zitierten Interview von Mai 2016 auch dem linksliberalen STANDARD nicht. In Berichten über sie oder in Interviews mit ihr ging es denn auch fast ausschließlich um den Islam – genauer: um Integration, Migration, Terror. Denn: Als tatsächliche oder vermeintliche, aus dem "Orient" stammende Muslima, repräsentiert Duzdar in allererster Linie den Islam, und dann lange nichts. Das ist Kulturalismus in Reinkultur, der auch von Linken und Liberalen kultiviert wird – und mit deren Auseinandersetzung mit FPÖ, AfD und Co in keinem Zusammenhang steht.

Wahlplakate der Grünen in der Nationalratswahl 2017, die vor der FPÖ warnten.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Nichts außerhalb der Sphäre des Islam

Oder: Das in diesem Blog bereits erwähnte Buch "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" der deutsch-türkischen Feministin Seyran Ates. Ein Buch, das der Sehnsucht vieler junger Menschen in Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit nach all dem, was sie mit dem Begriff "sexuelle Revolution" verbinden, eine Stimme verleiht. "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" beruft sich auf das Werk "Die sexuelle Revolution" des Freud-Schülers und Psychoanalyse-Kritikers Wilhelm Reich. Für Reich und für Freud lagen die Ursachen für das von ihnen kritisierte sexuelle Elend in gesellschaftlich bedingten psychischen Faktoren. Der Religion schrieben sie dabei die Rolle eines gewichtigen, krankmachenden Faktors zu. Weit davon entfernt diesen Faktor reformieren oder "revolutionieren" zu wollen, lehnten sie Religion in jeder Form ab. Der Gedanke an eine sexuelle Revolution "im Christentum" wäre ihnen mehr als absurd vorgekommen.

Wenn nun Ates – im Unterschied zu Reich und zu Freud – nicht für eine sexuelle Revolution in der Gesellschaft plädiert, sondern ausdrücklich für eine Revolution im Islam, verneint sie implizit die Möglichkeit, dass in islamisch geprägten Gesellschaften außerhalb der Sphäre des Islam so etwas wie Gesellschaft überhaupt existiert. Zwischen Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit und dem Islam besteht für Ates offenbar volle Identität. Als existierte "dort" nichts außerhalb der Sphäre des Islam – nicht einmal auf begrifflicher Ebene. Und: Auch Ates bezieht diese ihre Position wohl nicht in Reaktion auf den Diskurs von Rassisten der Marke FPÖ, AfD et cetera.

Der Logik dieser Ideologie der vollen Identifizierung von islamisch geprägten Gesellschaften mit dem Islam, entspricht übrigens auch jener im Westen weit verbreitete – unausgesprochene – Ansatz, Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit könnten einzig und allein über eine Erneuerung des Islam den Weg zu einer modernen, demokratischen Gesellschaft finden. Nicht etwa durch eine Säkularisierung jener Gesellschaften, die der Religion von außen den Platz zuweist, der ihr in einer modernen, säkularen Demokratie zukommen sollte.

Laizismus als Unterabteilung des Islam

Ich war unlängst Gast bei einem linken Lesezirkel in der österreichischen Provinz. Als die Runde auf das Thema "verschiedene Varianten des Islam" zu sprechen kam, führte ein Teilnehmer als Beleg für die Existenz eben dieses Variantenreichtums im Islam "die laizistische Türkei" an. Die türkische Gesellschaft, respektive der türkische Staat stellt für jenen Diskussionsteilnehmer also offenbar eine Unterabteilung des Islam dar, auch wenn er sie selbst – zu Recht oder zu Unrecht, Stichwort: Recep Tayyip Erdogan – als laizistisch bezeichnet. Als laizistisch gelten auf die strenge Trennung von Staat und Religion gründende Staatsmodelle.

Nun könnte man einwenden, dass jener linke Diskussionsteilnehmer das Thema "Variantenreichtum im Islam" – also die Formel "Den Islam gibt es nicht" – in Reaktion auf den Islam-Diskurs der neuen Rassisten in Stellung bringen würde. Dass er dabei aber gar nicht vom Islam spricht, sondern die türkische Gesellschaft beziehungsweise den türkischen Staat mit dem Islam identifiziert, steht mit der Reaktion Linker oder Liberaler auf den Diskurs der Rassisten in keinem erkennbaren Zusammenhang.

Banner des Staatsgründers der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, und des Präsidenten Erdogan.
Foto: AP/Lefteris Pitarakis

Auch hier zeigt sich: Die für den Islam-Diskurs vieler Linker typische kulturalistische Ideologie erschöpft sich keineswegs in ihrer Reaktion auf den Diskurs der Rassisten. Umgekehrt könnte uns allerdings die Analyse linker identitätspolitischer Positionen helfen, zu verstehen, wie es kommt, dass viele Linke glauben, (kritisches) Reden über den Islam könnte die Position der Rassisten stärken: Wer, wie jener Diskurssteilnehmer, Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit – somit alle vermeintlichen oder tatsächlichen Muslime – voll und ganz mit dem Islam identifiziert, geht davon aus, dass Menschen mit ihrer  – vermeintlichen oder tatsächlichen – Religion "vollkommen eins" sind. Dass der Islam nicht bloß ein Glaubensbekenntnis darstellt, sondern das "Sein" dieser Subjekte ausmacht. Dann ist es aber nur konsequent, Kritik an der islamischen Glaubenslehre oder Glaubenspraxis als rassistisch zu empfinden. Und anzunehmen, sie könnte die FPÖ, AfD und Co im politischen Kampf stärken.

Die Grünen als Gegner ihrer eigenen Sache

Hier könnte allerdings ein fatales Missverständnis vorliegen. Die Grüne Bildungswerkstatt eines österreichischen Bundeslandes hatte mich eingeladen, einen öffentlichen Vortrag unter dem Titel "Warum wir über den Islam nicht reden können" zu halten. Der Vortrag fand drei Tage nach den österreichischen Nationalratswahlen am 15. Oktober 2017 statt. Wie mir berichtet wurde, hatte es ein Vertreter der Grünen Landesparteileitung verhindert, die Veranstaltung vor dem Wahlsonntag zu bewerben. Es wurden keine Plakate gedruckt, vor dem Wahlsonntag fehlte auch im Internet jeder Hinweis auf den Vortrag. Der Vertreter der Landesparteileitung, der über den Inhalt des Vortrags nichts wusste, hatte einfach nur Angst, dass die Öffentlichkeit unmittelbar vor den Wahlen die Grünen mit dem Begriff "Islam" in Verbindung bringen könnte – der Begriff Tabu-Angst drängt sich hier unabweislich auf.

"Wer unter den gegebenen Umständen das, was in islamischen Kontexten kritikwürdig ist, öffentlich kritisiert", schreibt Biskamp, "läuft immer Gefahr, gewollt oder ungewollt zur Verbündeten von FPÖ [...] und Co. zu werden".

Spätestens nach den letzten österreichischen Nationalratswahlen bin ich versucht, das Gegenteil zu behaupten: Gerade ihre Tendenz "das, was in islamischen Kontexten kritikwürdig" scheinen mag, nicht zu benennen, scheint die österreichischen Grünen zu Verbündeten von FPÖ und Co – und zu Gegnern ihrer eigenen Sache – gemacht zu haben. Politische Beobachter gehen jedenfalls davon aus, dass das Bestreben der Grünen, im Wahlkampf des Jahres 2017 am Begriff "Islam" nicht einmal anzustreifen, wesentlich dazu beigetragen hat, dass sie heute nicht mehr im österreichischen Parlament sitzen. (Sama Maani, 9.1.2018)

Ende der Serie.

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Literaturhinweise

  • Sama Maani, "Warum wir über den Islam nicht reden können. In: ders., Respektverweigerung: Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht", Klagenfurt 2015.
  • Seyran Ates, "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution", Berlin 2009.

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