Amsterdam also. Weil man hin und wieder einen Luftwechsel braucht. Und weil es in der Frage, ob die Flucht in hochalpin-verschneite oder sandbuchtig-südliche Gefilde gehen soll, keinen Kompromiss gibt, der alle Beteiligten zufriedenstellt. Außerdem ist eine Stadt, die zu ihren USPs zählt, dass hier über 180 Ethnien und Nationalitäten friedlich zusammenleben, und die sich auch sonst ihre Offenheit auf alle Fahnen schreibt, gerade jetzt ein guter Ort, um einmal durchzuatmen. Auch wenn die "House of Cards"-Mitarbeiterin, die mit ihrem Freund auf der fröhlichen Hipster-statt-Massen-Kanaltour von Those Dam Boatguys dann neben einem durch die Gracht schippert, neugierig-angeekelt fragt, ob in Österreich wirklich "eine Nazipartei" in der Regierung sitzt. Und man beim Besuch der Holocaust-Gedenkstätte in der Schouwburg diesen spezifischen "Ihr schon wieder"-Blick abkriegt. Hatten wir das nicht schon?

Aber lassen wir das. Es geht hier ja ums Laufen. Und um sonst nix.

Foto: Thomas Rottenberg

Amsterdam also: 800.000 Einwohner. Eine Million Fahrräder. 75 Kilometer Grachten. Knapp 700 Ladestationen für Elektrofahrzeuge (die im Übrigen von der Parkraumbewirtschaftung weitestgehend ausgenommen sind – mindestens 70 Euro kostet es, einen PKW innerstädtisch zu parken). 2.500 Hausboote. Eine Unzahl an Museen, von Mikroben über Käse, Sex und Tulpen bis zu van Gogh & Co. 13.659 Holzpfähle, auf denen der Königspalast steht, und fast 9.000, die den Bahnhof tragen. Und 1.539 Brücken – das sind mehr als in Venedig. Und da ist noch eine Venedig-Parallele: Fast 18 Millionen Touristen zählte Amsterdam 2015 – da wird es in den schmalen Gassen und entlang der Grachten sehr rasch sehr eng.

Aber trotz der Massen: Amsterdam war und ist für mich seit jeher eine Herz- und Schatzstadt. Gelaufen bin ich hier aber noch nie.

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich hat Ilija Trojanow recht. Man möge, postulierte der Autor einst, tunlichst "nackt" reisen. Das aber nicht im Sinne von "unbekleidet": Bei Trojanow steht "nackt" für "unbelastet". Also rein. Ohne vorgefasste Meinung, vorgefertigte Bilder und ohne vorher festgelegten Erlebnisplan: offen, neugierig, bereit.

In der Theorie klingt das super. In der Praxis steht man dann aber doch mit dem "Lonely Planet" in der Hand oder der Tripadvisor-App auf dem Handy egal wo in der Welt an einer Straßenecke, hält den Finger auf das gehighlightete Vokabel "Geheimtipp", folgt der Route im Guide – und wundert sich, dass dort auch schon 250 andere darauf warten, ihre Instastory hochladen zu können: Nur ist das Wifi grad down. Wegen Überlastung.

Aber weil Touristen ja immer nur die anderen sind, hat Trojanow natürlich auch dann recht, wenn man sich in Amsterdam in der Früh die Laufschuhe anzieht – und einfach drauflosläuft.

Foto: Thomas Rottenberg

Oder so tut als ob: "Einfach drauflos" ist nämlich gelogen. Denn natürlich hatten wir uns zuvor auf Strava unter "Lokale Führer" ein paar der beliebtesten Routen kurz angesehen. Nur: Das muss man ja nicht unbedingt laut sagen. Außerdem ist Streckenplanung in meiner Beziehung zu Amsterdam ohnehin immer nur eine vage Absichtserklärung: In anderen Städten finde ich mich meist intuitiv und rasch zurecht – aber in Amsterdam lande ich unter Garantie nicht dort, wo ich glaube, dass der Weg mich hinführen wird. So auch diesmal: Von einer Moschee an der Strecke war nie und nirgendwo die Rede gewesen. Aber in Wirklichkeit war das nicht nur egal, sondern sogar ein Gewinn: Ich kenne hier Kirchen und Synagogen. Und jetzt eben auch eine Moschee. Ob ich wieder hinfinden würde, ist aber eine andere Frage.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich bin ja eher der Morgenläufer: Weil Aufstehen sowieso (fast) immer eine Überwindung ist, macht es keinen Unterschied, ob ich es früh oder noch früher tue. Aus dem Alter, wo ich Qualität und Relevanz meiner Existenz daran bemaß, ob ich bis in die Morgenstunden unterwegs war, bin ich mittlerweile ja raus.

"Earlybirding" hat aus touristischer Sicht einen enormen Vorteil: Man sieht beim Stadtbesichtigen nicht nur Touristen – sondern die Stadt. Und andere Earlybirds. Wenn es sie denn gibt: In Amsterdam wird es im Winter deutlich später hell als in Wien. Und die Locals sind allem Anschein nach eher keine Frühaufsteher: Den Vondelpark etwa, angeblich der Lauf-Hotspot der Stadt, hatten wir sogar um halb neun Uhr morgens noch halbwegs für uns allein. Und auch wenn der Park in Laufbelangen gern mit New Yorks Central Park verglichen wird, gibt es da einen großen Unterschied: die angrenzenden Häuser. Die gehen direkt auf den Park. Und weil die Amsterdamer – wieder so ein Unterschied zu Österreich – keine Vorhang-zu-Fetischisten sind, kann man ihnen beim Aufwachen und Frühstücken zusehen: "Eine Stadt wie ein Adventkalender!", lachte Eva.

Foto: Thomas Rottenberg

Touristisch sind Städte in der Früh eindeutig fest in asiatischer Hand: Zwei Läufer sind da gerade mal statistische Ausreißer. Das gilt nicht nur in Amsterdam, sondern überall. Vermute ich nicht jedenfalls, weil ich von meiner Frühlauf-Privatempirie verallgemeinere: Wer schon einmal in Wien um 6 Uhr 35 auf der Gloriette eine Busladung Taiwanesen oder in Innsbruck um sechs Uhr früh zwei Gruppen Koreaner beim Goldenen Dachl beim eiligen Schnappschussmachen getroffen hat, wundert sich auch nicht, wenn ihm in den noch menschenleeren Shoppingstraßen Amsterdams kleine Grüppchen Japaner im Eilschritt und mit einem Tempomacher-Guide entgegenkommen: "Europe in 5 Days" ist keine bösartige Verhöhnung fernöstlicher Urlaubskonzepte – diese Trips gibt es tatsächlich.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber bei einer Woche Jahresurlaub ist das wohl nicht anders möglich, obwohl den Besuchern aus Fernost da meiner Meinung nach eines der wesentlichsten Erlebnisse jeder Stadt entgeht: die Veränderung von Charakter und Ausstrahlung einer Stadt je nach Tageszeit. So wie hier am Rokin bleibt das Bühnenbild ja im Großen und Ganzen ungeachtet der Tageszeit immer gleich. Lediglich Personal, Dekoration und Beleuchtung verändern sich. Um Städte und ihr Wesen auch nur annähernd zu begreifen, sollte man, wenn nur irgendwie möglich, neuralgische Schauplätze deshalb in mindestens zwei Aggregatzuständen erlebt haben.

Wenn das auch noch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder unterschiedlichen Aktivitätsmustern geht: umso besser.

Foto: Thomas Rottenberg

Ganz abgesehen davon, dass es auf den Haupttouristenrouten tagsüber praktisch unmöglich ist, zu laufen. Geschweige denn zu laufen und zu schauen: Tagsüber stapfen hier nicht nur tausende Touristen entlang, die (das ist überall gleich) die Umgebung oft nur noch über die Displays ihrer Foto-Devices wahrnehmen. Wieso ansonsten vernunftbegabte Menschen da in der Sekunde vergessen, dass es eventuell nicht gut ausgeht, für den besseren Schnappschuss schlagartig die Richtung zu wechseln, einfach stehen zu bleiben oder vom Gehsteig auf die Straße zu hüpfen, werde ich nie verstehen: Es sind – selbstredend – natürlich immer nur die anderen, die da als "unguided missiles" unterwegs sind. Und wenn sie einem nicht vors Rad, die Beine oder die Motorhaube hüpfen, latschen sie einem unter Garantie ins ohne sie doch perfekte Bild hinein.

Noch ein Grund mehr, hier auch die Randzeiten zu suchen.

Foto: Thomas Rottenberg

Amsterdam ist flach. No na. Trotzdem kommen beim Belaufen der Stadt dann etliche Höhenmeter zusammen. Zum einen weil GPS-Tracker nie ganz genau sind (dass wir hier bei einer Bootsrundfahrt 25 Höhenmeter zurückgelegt haben sollen, scheint mir eher unwahrscheinlich). Zum anderen aber auch wegen der Brücken. 1539 sind es insgesamt. Aber auch wenn man natürlich nie im Leben alle überquert, kumulieren sich die Höhenmeter schon bei einem gemütlichen, eineinhalbstündigen Spazierlauf: Da die Stadt wenig Platz hat und nicht jede Brücke schwenkbar oder aufklappbar ist, geht es mitunter doch spürbar bergauf. Nicht weit. Nicht hoch. Nicht lang – aber eben doch: Kurze Brückensprints gehen sich aus. Sie haben sogar einen kleinen Trainingsbenefit.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Als Tourist hat man Verpflichtungen. Fotos mit Klischeesujets gehören da dazu. Auch hier ist der vergleichsweise frühe Morgen von Vorteil: Um neun Uhr sind zwar noch kaum Touristen unterwegs, aber die Shops machen schon auf. Und wenn Versatzstücke wie dieser Schlapfen gerade und dem Augenschein nach akribisch von all dem gereinigt worden ist, was sich da in der Nacht mutmaßlich in ihm angesammelt hat, ist das Reinsetzen auch ganz ohne "Wäääh" und Ekel möglich.

Foto: Thomas Rottenberg

Am zweiten Lauftag waren wir dann schlauer und liefen ein bisserl später los: Um neun Uhr krabbelt die Sonne gerade über den Horizont. Wir wohnten am Westerdok, ein paar Minuten nordwestlich vom Centrum, mit Blick über den "Meereszubringer" Het IJ hinüber zum Stadtteil Noord – direkt auf das EYE Filminstitut von Delugan-Meissl.

Foto: Thomas Rottenberg

Dass der zweite Morgenlauf da trotz eisigen Windes an die Wasserlinie führen würde, war irgendwie klar: kurz das IJ entlang und dann, diesmal wirklich ohne Plan, auf gut Glück Richtung Nordwesten – Wakin’ up Amsterdam, Teil zwei.

Foto: Thomas Rottenberg

Hier ist nicht Alt-, sondern Exhafenstadt: Neben klassischen Wohnhäusern und modernen Wohnblöcken gibt es hier eine Vielzahl ehemaliger Speicher- und Lagerhäuser, die längst zum Großteil in Wohnungen, Lofts und Appartements umgebaut worden sind. Für Normalverdiener mittlerweile vermutlich unbezahlbar, nehme ich jetzt mal an – aber die, die es sich leisten könne, legen dann eben auch Wert darauf, dass Fassaden und Viertel hübsch und proper aussehen. Und mit offenen Fensterläden ähnelt dann tatsächlich so manches Gebäude einem Adventkalender mit offenen Türchen.

Foto: Thomas Rottenberg

Hierher, aufs Prinseneiland, kommt man nur über Brücken. Hier sind es vor allem Zugbrücken – und die sind nicht nur hübsch pittoresk, sondern auch steil genug, um wieder ein bisserl am eigenen Antritt zu feilen. Theoretisch. Denn tatsächlich konzentrierten wir uns mehr aufs Schauen und Genießen – soweit der Wind es halt zuließ.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch wenn wir uns keine exakte Route vorgenommen hatten, war das Ziel doch klar gewesen: Westerpark. Eine schöne, große, aber nicht ganz historische Parkanlage. Ähnlich wie der Vondelpark ist auch der Westerpark heute ein Lauf- und Activity-Hotspot. Dass uns hier deutlich mehr Frühsportler begegneten als zuvor im Vondelpark, war zum einen sicher der "späteren" Stunde (halb zehn statt halb neun) geschuldet – lag aber wohl auch am Wochentag: Sonntag.

Bevor jemand den Zeigefinger hebt: Die Damen im Bild sahen, dass ich fotografieren wollte – und die Trainerin (die Dame in Pink) gab mir ein zustimmendes "thumbs up". Das nur nebenbei.

Foto: Thomas Rottenberg

Westerpark ist aber mehr als ein Park mit Kunstwerken, einer direkt daran angrenzenden, großen und doch niedlichen Schrebergarten- und Public-Gardening-Anlage und einem Streichelzoo samt Biotop, das stolz von sich verkündet, dass hier täglich bis zu 500 Stadtkinder erfahren, was Natur, was ein Tier ist: Hier qualmten, dampften und und rauchten bis weit ins 20. Jahrhundert die Amsterdamer Gaswerke – bis die 13 Ziegelbauten im charakteristischen holländischen Neo-Renaissance-Stil nicht mehr gebraucht wurden und verfielen. 1989 wurde das Areal unter Denkmalschutz gestellt. Der Park nahm Gestalt an – und die historischen Gebäude bekamen eine neue Funktion: als Atelier-, Kultur- und Kreativviertel.

Foto: Thomas Rottenberg

Klar: Sonntagmorgen, beim Laufen, ist vom neuen Leben in den alten Gemäuern wenig zu sehen. Aber die Atmosphäre spürt man. Sogar dann, wenn man nur an den Skulpturen und den Land-Art-Installationen und -Interventionen von Kathryn Gustafson vorbeiläuft: Der Wind hatte die Wolken der vorangegangenen Tage weggefegt. Die Sonne stand niedrig, war aber doch da – und würde uns heute den ganzen Tag über erhalten bleiben. Es war zwar saukalt, aber das war egal: Vor uns lag ein grandioser Tag in einer grandiosen Stadt. Und noch wichtiger: ein Frühstück, bei dem wir uns über das, was wir heute schon erlebt hatten, freuen können würden. (Thomas Rottenberg, 10.1.2018)


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