Die offene Debatte kann niemals bedeuten, dass immer wieder aufs Neue alles zur Disposition steht.

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Es hat sich ausparliert. Viel zu lange wurde mit aller Macht versucht, irgendwie und immer wieder Verständnis zu generieren, wo keines angebracht war. Sätze wie "Wir müssen verstehen", "Die Ängste kommen ja irgendwo her" oder "Wir sollten auf sie zugehen" tauchten in den vergangenen Jahren massenweise in Foren und Timelines, auf Facebook und sonst wo auf. Das Ergebnis haben wir jetzt. Mit voller Wucht.

Ja, natürlich braucht es einen Diskurs, eine Offenheit. Die gesellschaftliche Entwicklung ist ohne Partizipation der Betroffenen, aller Betroffenen, nicht denkbar. Dazu gehört, eigene Motive, eigene Vorstellungen, eigene Ängste, Wünsche, Sehnsüchte und so weiter offen aussprechen zu können.

Aber die Möglichkeit für alle, offen sagen zu können, wie sie sich die Gesellschaft vorstellen, kann niemals bedeuten, dass immer wieder aufs Neue alles zur Disposition steht. Ein verantwortlicher Diskurs muss von Haus aus die Rahmenbedingungen aufzeigen, die diesen überhaupt erst möglich machen – und daher auch klipp und klar jene Linien definieren, hinter die selbst die regressivste Forderung niemals gehen darf.

Viel zu geduldig und nachsichtig

Gerade jene, die gerne als "Gutmenschen" beschimpft werden, könnten erkennen, dass viele von ihnen viel zu lange "zu gut" waren. Nicht den geflüchteten Menschen oder den diskriminierten Minderheiten gegenüber, sondern im Umgang mit jenen, die – aus verschiedensten Gründen – den Erben des Nationalsozialismus blind nachlaufen und deren Tradition der Menschenverachtung und der Hetze nachreden, nachschreiben und nachleben.

Die "Bobos" waren viel zu lange geduldig und nachsichtig gegenüber längst als rechtsextrem bekannten Ansichten und Forderungen. Anstelle hier unisono und mit entsprechender Breitenwirkung ein unmissverständliches "kein Millimeter" zu kommunizieren, wurden die Timelines mit ewigen verständnisvollen Fragen einerseits und Hassrechtfertigungen andererseits sowie Blablabla-Diskussionen gefüllt. Da ein "Anti Islam"-Hetzer, dort ein "Wir können nicht alle retten"-Zauderer, dann wieder "Grenzen dicht"-Brüllende. Alle werden immer wieder mit viel zu viel geduldiger Aufmerksamkeit beachtet und mit Argumenten umworben. Der Erfolg ist enden wollend.

Sprache verändert politischen Diskurs

Mit sturen Ausländerfeinden in "freie und offene" Diskussionen zu treten, um ihnen dann vielleicht des Friedens willen zu zehn oder 15 Prozent recht zu geben, ist ein No-Go. Morgen diskutieren sie weiter und bekommen dann wieder ein bisschen recht, übermorgen sind wir dann schon bei 40 Prozent, nach endlosen Schleifen kommen sie dem Ziel immer näher.

Für viele fast unbemerkt verändert sich die Sprache, das Vokabular, das Framing, die Grundstimmung und damit der gesamte politische Diskurs. Einträge in Foren, die vor einigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen wären und sofortige Löschung nach sich gezogen hätten, bleiben heute "im Sinne einer breiten Diskussion" locker stehen. (Nicht zuletzt deshalb, weil wir noch viel schlimmere oft gar nicht zu sehen bekommen.)

Beispiel Schule

Das Ergebnis ist so fatal, wie wenn in einer Schule der Lehrkörper ständig sich nur mit den Verhaltensauffälligen bis -gestörten beschäftigen würde, ja sogar mit ihnen verständnisvolle Diskussionen und Gespräche führen würde, während die übrigen Schüler keine Aufmerksamkeit bekämen. Die Folge wäre ein extrem schnelles Anwachsen von Verhaltensauffälligkeiten und der frustrierte Rückzug der "schweigenden Mehrheit", die wohl immer mehr zur Minderheit würde. Am Ende wäre die ganze Schule nur mehr eine Problemschule, so wie jetzt unser Land ein Problemland wurde.

Natürlich sind nicht alle, die sich als Hetzer oder Rassisten betätigen, nur schlechte Menschen. Natürlich kann es auch sein, dass manche durch harte Erfahrungen erst zu solchen wurden. Das macht aber die Inhalte eines offenen Rassismus oder einer geifernden Xenophobie in keinster Weise richtig oder gerechtfertigt.

Menschenrechte als rote Linie

Auch wenn es nicht die Vorstellung der aktuellen Regierung sein wird, muss dennoch als conditio sine qua non für jeden politischen Diskurs gelten: Hinter die längst festgeschriebenen Grund- und Menschenrechte kann niemals zurückgegangen werden. Die Millionen Toten des Holocaust haben uns ein Erbe hinterlassen, das in den Menschenrechten Ausdruck findet. Hinter diese rote Linie kann kein verantwortlicher Diskurs in der Politik gehen. Bleibt zu hoffen, dass die Zurückweisung solcher Ansinnen entsprechend kräftig und deutlich – aus allen Ebenen – ausfällt.

Solcher Klarheiten bedarf unser Land dringendst. Denn wir haben ein grobes Problem: Die Verhaltensauffälligen sitzen – nach einer Welle der Verwüstung und auf Wunsch einer augenscheinlichen Mehrheit – in der Direktion und haben die Leitung übernommen.

Es bedarf keines Abwartens, ob sich die extremen Rechten auch wirklich als solche benehmen. Wer ihnen die Schlüssel der Macht in die Hand drückt, nur um selbst ein Stück der Macht zu erhalten, schließt einen Pakt mit dem Teufel, den er so schnell nicht mehr los wird. Dafür kann es kein Verständnis geben. Es hat sich ausparliert. Schluss mit dem Zugutmenschensein. (Bernhard Jenny, 11.1.2018)