EU-Kommissarin Margrethe Vestager genießt in Europa derzeit große Popularität. Das "Handelsblatt" kürte sie zur Politikerin des Jahres 2017.

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Sie ist die Frau, die versucht, die IT-Giganten aus dem Silicon Valley zu zähmen: Gern wird Margrethe Vestager, die aus Dänemark stammende EU-Wettbewerbskommissarin, mit diesen Worten bei öffentlichen Veranstaltungen vorgestellt. Vestager und ihr Team hatten in den vergangenen Monaten schließlich einige der spektakulärsten Entscheidungen in der Geschichte der EU-Kommission zu verantworten.

Unter ihrer Federführung wurde Apple 2016 zu einer Steuernachzahlung von 13 Milliarden Euro in Irland verdonnert. Google muss ebenfalls Milliarden zahlen, weil der Konzern Suchergebnisse manipuliert haben soll. Die Dänin argumentiert stets, dass sie nicht von Antiamerikanismus getrieben ist, sondern dass Europa für fairen Wettbewerb sorgen müsse.

Unter Experten wird zurzeit über einen anderen Ansatz diskutiert, um die IT-Giganten zu zähmen. Die Idee: Google und Facebook sollten als natürliche Monopolisten dazu gezwungen werden, ihre Infrastruktur für andere Anbieter zu öffnen. So ließe sich die Marktdominanz besser zügeln. Die IT-Riesen müssten dann zum Beispiel gewisse Patente teilen oder für Inhalte von Medienunternehmen Entgelte zahlen.

STANDARD: Was halten Sie von der Idee, Google und Facebook zu öffentlichen Versorgern zu erklären und als solche zu regulieren?

Vestager: Es existieren in der EU sehr hohe Hürden dafür, eine bestimmte Infrastruktur zu einem öffentlichen Gut zu erklären. Die Idee stammt aus der Welt vor dem Internetzeitalter. Voraussetzung für einen solchen Schritt wäre, dass eine Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird, bei der es wirtschaftlich nicht rentabel ist, diese zu duplizieren. Das ist der Fall bei Bahnnetzen, Kanalisation oder Wasserleitungen. Es macht keinen Sinn, ein zweites Schienennetz in einem Land zu verlegen. Dem wird jeder zustimmen. Aber sind die Voraussetzungen dafür bei Leistungen von Google und Facebook erfüllt? Die Marktdominanz dieser Konzerne entsteht ja einzig dadurch, dass Konsumenten eine Präferenz für deren Produkte haben.

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Facebook-Chef Mark Zuckerberg bei einer Abschlussfeier in Harvard. Facebook steht seit der russischen Einmischung in den US-Präsidentschaftswahlkampf im politischen Rampenlicht.
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STANDARD: Aber wenn jemand Sie um Geld bittet, um ein zweites Google aufzubauen, würden Sie ihn fortschicken, weil das keiner braucht.

Vestager: Ich kann dem Gedankengang folgen und halte diese Debatte für wichtig. Ich könnte aber nicht sagen, ob und wie es rechtlich machbar wäre, Google zu einem öffentlichen Versorger zu erklären. Die Konsequenzen müsste man gut durchdenken. Einen anderen Einwand habe ich. Blicken Sie zehn Jahre zurück: Meine Vorgänger hier in der Kommission und deren US-Kollegen hatten damals viel mit wettbewerbsrechtlichen Problemen rund um Giganten wie Microsoft zu kämpfen. Diese Unternehmen spielen heute nicht mehr eine so dominierende Rolle wie damals, auch wenn sie nach wie vor bedeutend sind. Der Status quo ist nicht in Stein gemeißelt.

STANDARD: Wobei es ironisch ist. Die EU hat gegen die Staatsmonopole in der Luftfahrt und im Energiesektor erfolgreich gekämpft. Dafür gibt es jetzt die privaten Monopole in der IT-Branche.

Vestager: Ja, wobei wir uns aus dieser Vergangenheit Inspiration holen können. Die Devise war, dass wir selbst ganz wichtige Dienstleistungen privatisieren können, wenn wir dazu in der Lage sind, für ein effektiv reguliertes Umfeld zu sorgen. Die Frage ist also vielleicht gar nicht so sehr, wie wir die Dienste von Google zu öffentlichen oder halböffentlichen Leistungen erklären können, sondern eher, wie wir die richtigen Regeln und die richtige Regulierung festschreiben können, damit diese Unternehmen unserer demokratischen Ordnung nicht davonwachsen. Ich hoffe, dass alle den jüngsten Weckruf gehört haben.

STANDARD: Welchen Weckruf?

Vestager: Die Einflussnahme durch Russland auf die US-Präsidentenwahl war für mich der bisher ernüchterndste Moment in der Geschichte der Digitalisierung und jedenfalls ein Weckruf. Die Gefahren, die sich aktuell für die Demokratien stellen, dürfen wir nicht ignorieren. Wenn wir uns nicht um die Probleme kümmern, geht das Vertrauen der Menschen in die Digitalisierung verloren. Drei von vier Europäern sagen in Befragungen bereits, dass sie nicht das Gefühl haben, ihre Daten kontrollieren zu können. Ohne Vertrauen werden wir die Vorteile einer digitalen Gesellschaft nicht nutzen können, ob es nun um Mobilität geht oder darum, Krankheiten zu heilen.

US-Präsident Donald Trump und Russlands Staatschef Wladimir Putin. Ist die Demokratie durch digitale Filterblasen in Gefahr?
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STANDARD: Was gefährdet die Demokratie in Ihren Augen?

Vestager: Mich beunruhigt, dass Bürger auf Facebook und anderen Websites zunehmend nur noch Dinge zu sehen bekommen, die sie selbst gern haben. Was es immer weniger gibt, sind Inhalte, die dem eigenen Weltbild widersprechen. Für noch problematischer halte ich die Nutzung von personalisierten Inhalten für politische Werbung. Genauso, wie es Werbung gibt, die Unternehmen auf Basis Ihres Verhaltens im Internet erstellen, personalisiert sich die politische Werbung im Netz. Sie als Mann erhalten ganz andere Botschaften als ich als Frau. Das birgt eine Menge Herausforderungen: Woher sollen wir genau wissen, wer welche Werbung erhält? In manchen Fällen wird es keine Journalisten geben, die einen Faktencheck durchführen können, weil niemand erfahren wird, dass Bürger diese und jene Werbebotschaft bekommen haben. Politiker anderer Parteien werden diesen Botschaften deshalb auch nicht widersprechen können. Ich habe mit diesen Vorgängen ein großes Problem.

STANDARD: Sind solche Filterblasen eine Gefahr für die Demokratie?

Vestager: Das Fundament der Demokratie ist, dass wir uns im öffentlichen Raum begegnen und dort frei miteinander diskutieren und streiten können. Deshalb gibt es die Meinungsfreiheit, sie bildet im Kern das Recht, anderen zu widersprechen. Nun besteht das Risiko, dass die Demokratie ebenso privatisiert wird wie die Werbung, wenn die Debatte nur noch in einem abgeschirmten, nichtöffentlichen Rahmen stattfindet.

STANDARD: Zu den Kernaufgaben der Wettbewerbshüter gehört es, darauf zu achten, dass Konsumenten nicht durch Preisabsprachen übervorteilt werden. Wie lässt sich das im digitalen Zeitalter umsetzen? Die meisten Dienstleistungen sind ja kostenlos.

Vestager: Es ist Zeit, mit der Fiktion aufzuräumen, dass Bürger im Internet für Dienste nichts zahlen. Natürlich tun sie das. Sie zahlen mit ihren Daten, und das nützt jemand aus und macht damit Geld. Wenn Sie Mitglied bei einem Supermarkt sind, weiß dieser, was Sie wann einkaufen, und schickt Ihnen personalisierte Werbung. Im Gegenzug haben Sie als Stammkunde bestimmte Preisvorteile. Hier können die meisten Kosten und Nutzen abwägen. Als Staatsbürger wird es unsere Aufgabe für die Zukunft sein herauszufinden, was der angemessene Preis für unsere Daten online ist. Die Möglichkeiten dazu werden besser, wenn im Mai die neue Datenschutz-Grundverordnung in Kraft tritt. Ich rechne damit, dass vermehrt Unternehmen aktiv werden, die statt Daten für ihre Leistungen Geld wollen. Das wird einen Beitrag dazu leisten, dass wir ein besseres Gefühl bekommen für den Wert unserer persönlichen Informationen.

Ein Attac-Protest gegen die Steuerpraktiken von Apple in Frankreich. Die EU-Kommission hat Apples Steuerrabatte ebenfalls ins Visier genommen, und zwar mithilfe des Beihilferechts.
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STANDARD: Die meisten Menschen scheint es aber nicht zu interessieren, was sie an Daten hergeben.

Vestager: Wenn wir Auto fahren, brauchen wir einen Führerschein, auch Radfahrer müssen Verkehrsregeln beachten. Gleiches gilt für unser Verhalten im Netz: Die Menschen müssen sorgsamer werden.

STANDARD: Sie haben Google eine Strafe auferlegt, weil der Konzern seinen Dienst Google Shopping bei Suchanfragen vorgereiht hat. Wurden Kunden dadurch benachteiligt?

Vestager: Im Fall von Google war es eine Kombination: Google-Shopping-Seiten wurden bei Suchanfragen vorgereiht, Ergebnisse anderer Sites landeten im Schnitt auf Seite vier. Aber wer stößt bei einer Suchanfrage bis zur vierten Seite vor? Dort wird niemand gefunden. Vielleicht sind Google-Konkurrenten wie Pricerunner und Kelkoo für Konsumenten besser.

STANDARD: Das müssen Sie aber erst vor Gericht nachweisen. Google hat Beschwerde eingelegt.

Vestager: Nicht unbedingt. In manchen Verfahren wird es ausreichen nachzuweisen, dass für den Kunden die Auswahl eingeschränkt wurde. Wir müssen nicht in jedem Fall auch zeigen, dass Kunden konkret geschädigt wurden.

STANDARD: Die Kommission setzte in Verfahren gegen Apple, Amazon und Starbucks das Beihilferecht ein: Sie haben Steuerrabatte, die diesen Konzernen in Irland oder Luxemburg gewährt wurden, für illegal erklärt. Ein neuer Ansatz.

Vestager: Es war nie ein Geheimnis, dass Regierungen nicht selektiv einzelnen Unternehmen Steuervorteile zusagen dürfen. Es gibt dazu Gerichtsurteile in der EU, die zehn Jahre und älter sind. Was für lange Zeit ein Geheimnis geblieben ist, war, dass viele Länder genau solche Zusagen gemacht haben und Unternehmen ihr ganzes Geschäftsmodell darauf aufbauten.

STANDARD: Dass Sie hier so viel Druck machen, ist doch neu. Haben Apple und die anderen nicht recht, wenn sie von einem politisch motivierten Vorgehen reden?

Vestager: Neu ist, wie unsere Arbeit in der Öffentlichkeit gesehen wird. Dazu hat die Finanzkrise beigetragen. In fast allen Ländern wurden staatliche Leistungen gekürzt. Zugleich haben Enthüllungen wie Luxleaks und Panama Papers gezeigt, dass einige Unternehmen und Privatpersonen ihren fairen Anteil zum Funktionieren der Gesellschaft nicht beigetragen haben. Das hat viele empört. Das Ironische an einem freien Markt ist, dass wir von Zeit zu Zeit eingreifen müssen, damit er funktioniert. Es gibt in unseren Verfahren aber eine Reihe von Checks and Balances dafür. Unsere Entscheidungen müssen letztlich auch vor Gericht halten. Parteipolitik und geopolitische Überlegungen spielen dabei keine Rolle, denn das würde unsere Rolle völlig delegitimieren. (András Szigetvari, 12.1.2018)