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Schriftsteller, Übersetzer und Journalist: Mirko Bonné.

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Gemälde können sich manchmal anfühlen wie alte Freunde: Wenn man vor ihnen steht, ist es, als würde man jemanden treffen, den man vor langer Zeit gut kannte. Vielleicht ist das so, weil Gemälde eine Fähigkeit haben, an der es der Sprache bisweilen mangelt. Sie können Stimmungen, Sehnsüchte, Empfindungen auf eine wundersame Art in sich speichern und dem Betrachter übertragen.

In Mirko Bonnés Lichter als der Tag bildet ein Gemälde den Fluchtpunkt: Jean-Baptiste Camille Corots Gemälde Champ de blé dans le Morvan (Weizenfeld im Morvan). Der Titel wiederum ist dem Barockdichter Andreas Gryphius entlehnt, genauer dem Sonett Über die Geburt Jesu: "Nacht / lichter als der Tag". Licht ist es, wonach der traurige Held der Geschichte sucht: Licht, und ja, so etwas wie Erlösung. Denn das Leben von Raimund Merz, einem Mann, der wohl den Großteil seiner irdischen Zeit bereits aufgebraucht hat, ist trist.

Festgefahren in den Koordinaten eines gewöhnlichen mitteleuropäischen Arbeitnehmerdaseins, aber sicherlich nicht glücklich, lebt er als Ehemann einer vor Ehrgeiz zerfressenen Kieferorthopädin, Vater zweier Töchter und Angestellter eines Nachrichtenmagazines (das den schönen Namen Der Tag trägt) dahin. Oft treibt er sich am Hamburger Hauptbahnhof herum, denn dort zeigt sich das, wonach er sich sehnt: "Aus der Zeit, als er noch ein Junge gewesen war, kannte er ein Licht, das fand er später für sehr lange Zeit nur in der Bahnsteighalle seiner Stadt wieder, und auch nur an bestimmten Tagen." Es ist jenes Leuchten, das er als Gymnasiast in dem besagten Gemälde Corots entdeckt hatte. Ein anderes Leuchten aus seiner Jugend begegnet ihm dann ebenfalls in den Hallen des Hauptbahnhofes wieder: Inger.

Rätselhaftes Licht

In verschachtelten Rückblenden, die eher an einen Krimi als an einen Liebesroman erinnern, deckt Bonné nach und nach die Vergangenheit auf. In dieser Vergangenheit gab es nicht nur das rätselhafte Licht, es gab auch einen "wilden Garten" und vier hoffnungsfrohe Jugendliche, die dort gemeinsam aufwuchsen: Raimund und Floriane, sein Freund Moritz und die Dänin Inger, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern von ihrer Tante in Deutschland aufgenommen wird. Lose nimmt Bonné in dieser Viererkonstellation Bezug auf Goethes Wahlverwandtschaften. Raimund und Moritz verlieben sich beide in Inger, und obwohl man annehmen kann, dass Inger Raimund aufrichtig liebt, werden sie und Moritz ein Paar. Der Tod ihrer Eltern scheint ihr das Vertrauen in das Leben, den Glauben an die Liebe genommen zu haben.

Sich in ihrer Enttäuschung tröstend, werden Raimund und Floriane ein Paar und das Unglück nimmt seinen Lauf: Kinder werden aus Berechnung gezeugt, Ehen aus Gleichgültigkeit geschlossen. Die Nähe zum Krimi ist naheliegend, denn wer hier was aus welchen Gründen tut oder unterlässt, das scheint auch den handelnden Personen oft nicht bewusst zu sein. Genau beobachtet und bisweilen fast ein wenig boshaft beschreibt Bonné, wie seine Protagonisten und Protagonistinnen Lebensentscheidungen treffen: nicht aus Liebe oder Überzeugung, sondern aus Ehrgeiz, Neid oder Angst, um die Eltern zufriedenzustellen oder um jemand anderes auszustechen.

Glückliches dickes Ende

Erst die Begegnung Raimunds mit Inger bricht die verkrusteten Leben dieser an das eigene Unglück längst gewöhnten Durchschnittsbürger auf. Am Ende entführt er seine jüngste Tochter, lebt monatelang mit ihr in Frankreich und bereitet dort den Diebstahl des Gemäldes vor, von dem er sein Leben lang geträumt hat. In jenem Feld, das Corot einst gemalt hatte, trifft er Inger wieder, der symbolische Kurzschluss des Romans: "Er wusste, gleich würde er sie spüren, doch solange er sich bewegte, kam es ihm vor, als ginge er in Camille Corots Bild hinein." Natürlich ist das glückliche Ende dick aufgetragen; überhaupt ist der Roman bisweilen etwas überladen mit Details, Zitaten und kolportagehaften Wendungen. Aber man verzeiht das gerne, denn der Gedanke, der dieses Buch trägt, ist von großer Schönheit und Weisheit. Es scheint Bonné weniger um eine plausible Geschichte zu gehen, als darum, eine Parabel darüber zu erzählen, wie der Mensch vor seinem Glück weglaufen – oder einfach hingehen kann. Nicht umsonst heißt es über Merz mit enervierender Regelmäßigkeit: "einer wie er". Denn wir alle sind, zumindest manchmal, so wie er.

Das Licht, das Raimund Merz die ganze Zeit über sucht, ist nichts anderes als die Sehnsucht und Hoffnung seiner Jugend, die er sein halbes Leben lang verraten hat. Er findet es nicht nur wieder, sondern kann es in Gestalt Ingers schließlich sogar umarmen, weil er eines gelernt hat: nicht nur zu erkennen, was er will, sondern auch dafür einzustehen. "Einer wie er sollte für alles den Kopf hinhalten, was er sich in diesem Kopf ausgedacht hatte. Und er sollte mit diesem Kopf nicht nur denken, sich etwas vorstellen, etwas erfinden, sondern auch den Mund aufmachen und sagen, was in ihm vorging." Denn was nützt die Liebe in Gedanken? Die Liebe und das Leben gehören nicht gedacht, sondern gelebt. Ans Licht des Tages gebracht. (Andrea Heinz, 19.1.2018)