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Leben in der eigenen Blase, im eigenen "Stamm" mache Gesellschaften unfriedlich, sagt der Philosoph Alexander Grau.

Foto: Reuters / David W. Cerny

Mitunter bedarf es bloß eines Stichwortes, eines Namens, und das Netz fällt in Schnappatmung: #MeToo, Felix Baumgartner, Andreas Gabalier – und schon geht's rund in der Posting- und Twittercommunity.

Der deutsche Essayist und Philosoph Alexander Grau ortet etwas Genüssliches an diesem Phänomen der kollektiven Erregung, eine "Neue Lust an der Empörung". Alexander Grau befindet, eine "Hypermoral" habe Platz gegriffen, und dieser "Hypermoralismus" sei zu einer Leitideologie, zum meinungsbildenden Monopol geworden. Über dieses Phänomen hat er jüngst ein Buch geschrieben. "Alle anderen Erwägungen werden diskreditiert", sagt Grau, "sogar technische, wissenschaftliche oder ökonomische Probleme werden zu moralischen Fragen umgedeutet."

Der moralische Diskurs verfüge über ein "enormes Emotionalisierungspotenzial", sagt Grau. Indem er Gefühle mobilisiere, entlaste er zugleich vom Nachdenken. Moralische Normen bildeten "das Wohlfühlbecken, in dem die Seele des modernen Menschen munter planscht". Und dieser grassierende Moralismus trage nicht nur zu einer intellektuellen Vereinfachung, sondern auch zu einer "extremen Ideologisierung" bei, sagt Grau.

STANDARD: Die Lust an der Empörung wird täglich im Wirtshaus, in der Familie, im Verein ausgelebt. Was ist daran neu?

Grau: Der Resonanzraum ist größer geworden. Früher ereiferte sich der Vater vor dem Fernseher lautstark über die Unfähigkeit der Politiker, der Wirtschaftsbosse, der Sozis, der Konservativen etc. Oder man empörte sich beim Stammtisch. Das war alles überschaubar. Heute werden diese Meinungen einer Netzgemeinde verkündet. Der Effekt: Hier prallen plötzlich Milieus aufeinander, die früher gar nicht miteinander in Berührung gekommen wären. Das heizt die Stimmung enorm an, da die Leute sich nicht mehr verstanden fühlen. Wichtig ist jedenfalls, dass ich eine Meinung habe. Wenn ich keine Meinung habe, dann existiere ich medial nicht. Das Motto der sozialen Medien lautet: Ich meine, also bin ich. Und was ich meine, das existiert, alles andere ist Fake.

STANDARD: Kann hier gegengesteuert werden? Oder wird sich die mediale "Empörungsschraube" weiterdrehen?

Grau: Das klingt so, als ob wir die Wahl hätten. Haben wir nicht. Ein Zurück zu einer mehr oder minder homogenen öffentlichen Meinung, wie es sie noch in den 1970er- und 1980er-Jahren gab, wird es nicht geben. Manche Soziologen gehen davon aus, dass sich unsere westlichen Gesellschaften weiter tribalisieren: also sich zu Stämmen rückorganisieren, wobei diese "Stämme" dann keine Stämme im gewöhnlichen Sinne sind, sondern Milieus, die anhand ökonomischer, kultureller, weltanschaulicher, ästhetischer oder religiöser Merkmale Cluster bilden. Wie friedlich solche tribalisierten Gesellschaften sind, wird erheblich vom Wohlstand abhängen. Unter ökonomischem Druck werden solche Gesellschaften sehr schnell unfriedlich, die Empörungsschraube zieht enorm an. Wohlstand hingegen macht tolerant und liberal. Allerdings steht zu befürchten, dass vor dem Hintergrund der auf uns zukommenden ökonomischen Wandlungsprozesse die soziale Unzufriedenheit steigen wird. Gute Zeiten also für Empörung aller Art.

STANDARD: Dieses "Aufeinanderprallen" von Milieus findet inmitten unserer pluralistischen Gesellschaften statt, von der Sie sagen, dass sie eigentlich gar nicht "pluralismusfähig" sei. Man sei nur tolerant innerhalb seines eigenen moralischen Gefüges. Wann kam dieser Schwenk ins Intolerante?

Grau: Der Schwenk ins Intolerante kam, als die Ideale von 1968 mehrheitsfähig geworden waren, also in den 1990er Jahren. Überhaupt würde ich darauf pochen, dass nicht 1968 unsere Gesellschaft verändert hat. Nur Intellektuelle glauben, dass Intellektuelle die Welt verändern. Vielmehr war es umgekehrt: Schon davor zeigte sich eine deutliche Liberalisierung in den westlichen Gesellschaften. Bei der Rasanz der ökonomischen und technischen Entwicklung der 50er und 60er Jahre war ein "1968" im Grunde unvermeidbar. 1968 war bestenfalls der mediale Trigger, der gewisse Liberalisierungsvorstellungen noch einmal beschleunigt hat. Bezeichnend auch: Von 1968 wurden nur die kleinbürgerlich-hedonistischen Aspekte massentauglich, also sexuelle Freizügigkeit, Drogenkonsum, das Ideal von Partymachen, Freizeitgesellschaft etc. Die neomarxistischen Ideale wurden sehr schnell abgeblendet.

STANDARD: Emanzipationsgesellschaften mit ihrem Streben nach individueller Selbstverwirklichung und Offenheit wohnt also der Keim des Intoleranten, Autoritären inne?

Grau: Gesellschaften, die traditionellen Moralvorstellungen verpflichtet sind, neigen zu einem Ethos, zu persönlicher Zurücknahme und Entsagung. Die Alltagsmoral war stark bestimmt von einer Haltung des Verzichts. Das darf man nicht verklären. Das war auch Ausdruck des ökonomischen Mangels und einer Klassengesellschaft, in der eben 90 Prozent der Menschen in einer dienenden Funktion waren.
Unsere moderne Wohlstandsgesellschaft hat sich von diesem Ideal des Dienens und Verzichtens entfernt. Nicht in der Aufopferung erkennt der Mensch der Moderne seine Erfüllung, sondern in der Selbstverwirklichung. Das idiosynkratische Leben selbst wird zum Ideal und erfordert eine Moral der Offenheit. Niemand darf ausgegrenzt werden, die Selbstverwirklichungsgesellschaft hat alles zu tolerieren. Wer dem widerspricht, hat mit massiven Sanktionen zu rechnen. Ein durchaus autoritärer Zug.

STANDARD: Die Gesellschaft von heute trägt auch Merkmale eines Neobiedermeiers, einer neuen Prüderie in sich. Eine auf den ersten Blick eigentlich merkwürdige Entwicklung in der Folge der 68er-Bewegung.

Grau: Der Puritanismus von heute ist die logische Konsequenz des Hedonismus. Das eine funktioniert nicht ohne das andere. Historisch gesehen und wie schon angedeutet: Über Jahrtausende bestand Moral im Befolgen sittlicher Normen, die über Generationen überliefert wurden. Und das sittliche Leben bestand im Wesentlichen in Enthaltsamkeit und Selbstbeschränkung, nicht nur sexuell. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten bestanden sehr rigide Vorstellungen davon, wie man sich zu benehmen hat. Man nannte das Erziehung. Mit dieser Vorstellung moralischer Sittlichkeit hat die Kulturrevolution der 1960er- und 70er-Jahre aufgeräumt. Traditionelle Moralvorstellungen galten plötzlich als spießige Einengung und Ausdruck autoritärer, emanzipationsfeindlicher Herrschaftsstrukturen. Doch niemand möchte ohne Moral leben. Menschen brauchen eine normative Orientierung. Und die Gewissheit, zu den Guten zu zählen.

STANDARD: Was ist jetzt mit der Moral passiert?

Grau: Die Moral wurde einfach aus dem Privaten ins Politische entsorgt, damit wurde zugleich das Politische moralisch. Insbesondere im Milieu der progressiven Linksliberalen ersetzte man die traditionelle Sittlichkeit durch einen abstrakten Humanismus, besser: Humanitarismus. Der hat einen erheblichen Vorteil: Seine moralischen Normen haben mit der persönlichen Lebensführung wenig zu tun. Er erlaubt es, hedonistisch und zugleich hoch moralisch zu leben, denn schließlich bin ich für Nachhaltigkeit, gegen Ausbeutung, für soziale Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung. Das kostet weder Mut noch persönliche Anstrengungen. Gerade deshalb ist es so reizvoll. (Walter Müller, 14.1.2018)