Wie sieht das Menschenbild der Regierung aus? Arbeitsmarkt- und Familienpolitik geben ein wenig Aufschluss.

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Strengere Zumutbarkeitskriterien, Zugriffe auf das Vermögen von Langzeitarbeitslosen: Was denkt die Regierung über Arbeitslose im Land?

Illustration: Armin Karner

Die Arbeitslosigkeit sinkt seit ihrem Rekordhoch vor eineinhalb Jahren kontinuierlich. Es zeichnet sich ab, dass gewisse Gruppen von Arbeitslosen, trotz einer wachsenden Zahl an offenen Stellen, über längere Zeit keine Arbeit finden.

Illustration: Armin Karner

Arbeitslose werden in der Debatte manchmal als unwillige Schmarotzer angesehen, dann wieder als Opfer.

Illustration: Armin Karner

Es könne jedem passieren. Ohne irgendetwas falsch gemacht zu haben, stehe man ohne Job da, reflektierte Sebastian Kurz, als er im Wahlkampf auf die schwierige Phase angesprochen wurde, als sein Vater arbeitslos geworden war. Wenig später gewann er die Wahl, nun ist er Bundeskanzler der Republik Österreich.

Als eine der ersten Maßnahmen plant die frisch angelobte Regierung nun strengere Zumutbarkeitskriterien für vermittelte Jobs und spricht über Zugriffe auf das Vermögen von noch nicht näher definierten Langzeitarbeitslosen. Steht die persönliche Erfahrung des Bundeskanzlers sowie vieler anderer Bürger mit der sich abzeichnenden Politik im Widerspruch? Welches Bild hat die türkis-blaue Regierung von den Arbeitslosen in diesem Land? Die Antworten darauf haben weitreichende Folgen.

Gute Ausgangslage

Die Ausgangslage ist nicht übel: Der Wirtschaft geht es gut. So gut, wie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr. Auch die Arbeitslosigkeit sinkt seit ihrem Rekordhoch vor eineinhalb Jahren kontinuierlich. Im internationalen Vergleich steht Österreichs Arbeitsmarkt blendend da, jedoch stimmt der Blick über die Grenze missmutig. Die Arbeitslosenrate in der Mehrheit unserer Nachbarländer ist noch niedriger als bei uns.

Außerdem zeichnet sich immer klarer ab, dass gewisse Gruppen von Arbeitslosen, trotz steigender Beschäftigung und einer wachsenden Zahl an offenen Stellen, über längere Zeit keine Arbeit finden. Die Zahlen sagen uns – auch demografisch bedingt – gibt es immer mehr Langzeitarbeitslose über 50, Niedrigqualifizierte sind häufiger betroffen und nicht zuletzt Migranten.

Frage der Motivation

Selbst die Daten zeigen also keine homogene Gruppe, von der Vielfalt der Einzelschicksale ganz zu schweigen. Für sie hat die Regierung ein umfangreiches Maßnahmenbündel angekündigt, das alle möglichen Bereiche, von der Bekämpfung von Sozialdumping bis zur Stärkung der betrieblichen Ausbildung, umfasst. Doch zu allererst ging es der neuen Koalition eindeutig um das Individuum, den Menschen und seine Motivation. Aber von welchem Menschen gehen Kurz und Strache aus?

Für viele Kritiker ist der Fall klar: Was sich abzeichnet, ist eine Politik gegen Arme und das bewusste Schüren einer Neiddebatte. Nach dem Motto: Wer in Zeiten der Hochkonjunktur noch arbeitslos ist, hat es zu gemütlich in der sozialen Hängematte, ist eben ein Sozialschmarotzer.

Die Entwicklung am deutschen Arbeitsmarkt verläuft deutlich besser als in Österreich.

Das sei fernab der Realität, argumentieren die Regierungsgegner. Die meisten Langzeitarbeitslose seien Opfer des wirtschaftlichen Wandels, der Globalisierung und Automatisierung der Arbeitswelt. Höherer Druck auf die Betroffenen verursache unnötiges Leid, ohne die Beschäftigung zu erhöhen. Anders gesagt, die Regierung würde über neun entlassene Fabrikarbeiter drüberfahren, um einem Schwarzarbeiter, der nebenbei Notstandshilfe bezieht, die Leviten zu lesen.

Anreize schaffen

Allerdings gibt es auch eine deutlich sanftere Interpretation der neuen Arbeitsmarktpolitik und damit auch des Menschenbildes, das die Regierung von Arbeitslosen hat. Ökonomen wissen schon lange, dass jeder Mensch für Anreize empfänglich ist. Einen schlechtbezahlten Job anzunehmen, wenn das Arbeitslosengeld unwesentlich darunterliegt, ist nicht attraktiv. Das hat mit Charakterschwäche wenig zu tun. Eineinhalb Stunden am Tag zu pendeln ist eine Belastung, keine Frage. Viele nehmen solche Wegstrecken trotzdem in Kauf. Aber wenn es sich vermeiden ließe, wer würde da Nein sagen.

Demnach ist nicht jeder gleich ein Schmarotzer, nur weil er im bestehenden System nicht sofort einen Job annimmt. Weil die gesellschaftlichen Gesamtkosten gestiegen sind, ist es an der Zeit, mehr Anreize zu setzen, damit der Einzelne schneller einen Job annimmt, auch wenn die Betroffenen nur Opfer des Strukturwandels sind, lautet das Argument.

Die Wahrheit über das türkis-blaue Menschenbild liegt wohl irgendwo in der Mitte. Wo genau, ist schwer zu sagen. Denn ohne die konkreten Gesetzesentwürfe zu kennen, lässt sich nur spekulieren. Den Vorwurf des Sozialabbaus hat die Regierungsspitze natürlich sofort zurückgewiesen.

Das Bekenntnis zur Hilfe der Solidargemeinschaft – ganz im Sinne der katholischen Soziallehre – steht auch im Regierungsprogramm. Dafür sei aber die Mindestsicherung das richtige Instrument, sagt Kanzler Kurz. Das Arbeitslosengeld dagegen solle sich künftig stärker an bereits geleisteten Beiträgen orientieren.

Frage der Gerechtigkeit

Was die Regierung nicht bestreitet: Dass es verstärkt darum gehe, jenen, die sich durch das System "durchschummeln", künftig den Weg zu versperren. Freilich beteuern ÖVP und FPÖ, dass es nicht darum gehe, Neid zu schüren – sondern um Gerechtigkeit. Wer leistet, werde belohnt, wer leistungswillig sei, aber nicht (mehr) leisten könne, werde unterstützt.

Wer aber nicht leisten will, dem wird künftig nicht übermäßig geholfen. Schließlich, so das Argument, wer arbeite, dürfe nicht der Dumme sein. Genannt wird von FPÖ-Spitzenpolitikern etwa das kuriose Beispiel des Millionärs, der Arbeitslosengeld bezieht.

Wie sein Vater den Kanzler beeinflusst

Die Frage, ob die Regierung Arbeitslose eher als Schmarotzer oder als Opfer der Umstände sieht, lässt sich demnach so beantworten: beides. Die Regierung greift jedenfalls verstärkt das wachsende Empfinden von Ungerechtigkeit in der Gesellschaft auf. Gerade weil immer mehr Menschen unverschuldet ihren Job verlieren, sei es unfair, wenn sich andere "durchtragen" lassen, so das Argument.

Sein Vater habe damals irrsinnig gekämpft und sich komplett neu orientiert, sagte Kurz. Viele Betroffene können nachvollziehen, wie schwierig es ist, eine Stelle zu finden, wenn man lange Zeit arbeitslos war. Allzu menschlich ist es in dieser Lage, die Schuld jenen zuzuschreiben, die sich dem Arbeitsmarkt verweigern. Auch wer "neu im System" ist und (noch) nichts beigetragen hat, erweckt Misstrauen.

Schädliche Extreme

Über viele Kulturen und Epochen lässt sich beobachten, dass in schwierigen Zeiten sowohl Solidarität als auch Ungerechtigkeitsempfinden wachsen. Und mit Letzterem auch das Ausmaß sozialer Sanktionen. Was für Stammesgesellschaften gilt, findet sich ebenso in reichen Wohlfahrtsstaaten wieder.

Auf der Suche nach einer absolut gerechten Gesellschaft hat der amerikanische Philosoph John Rawls in den 1970er-Jahren ein Gedankenexperiment entwickelt. Alle Mitglieder einer Gesellschaft einigen sich auf Gesetze und Regeln, bevor sie ihre Rolle darin einnehmen. Danach entscheidet das Los, wer reich und wer arm, wer arbeitslos ist oder nicht. Das Problem: In staatlich organisierten Sozialsystemen fällt es viel schwerer zu unterscheiden, wer Opfer des Systems ist und wer es ausnutzt. Die Bilder, die Politiker von Arbeitslosigkeit erzeugen, haben daher weitreichende Konsequenzen.

Beide Extreme sind schädlich: Wer überall Schmarotzer vermutet, untergräbt die Solidarität genauso wie jene, die meinen, es gebe nur Opfer eines Systems. (Leopold Stefan, 13.1.2018)