Linz – Andorra von Max Frisch meint – als geschichtlich gut durchblutetes Modellstück – ganz bestimmt keinen Zwergstaat in den Pyrenäen. Eher schon lässt der Schauplatz verklausuliert an unsere Alpenrepublik denken. Eine kleinstädtische Hetzmeute stigmatisiert den Ziehsohn eines versoffenen Lehrers. Andri (Clemens Berndorff) wird so lange zum "Jud" erklärt, bis er die ihm angedichteten Eigenschaften – Scheelsucht, Körperschwäche, Geldgier – verzweifelt als seine eigenen begreift.

Frisch mag die konkrete Nazi-Ideologie 1961 weniger interessiert haben als der sozialpsychologische Vorgang. Andri wird im Linzer Landestheater pädagogisch besonders übel mitgespielt. Die Gesellschaft aus spröden Kleingeistern bildet gleich zum Auftakt von Stephanie Mohrs klarer, unsentimentaler Inszenierung eine Stirnreihe hinter Holzsesseln.

Die Dörfler, eine Rotte Griesgrame, bewohnen ein hohes Klassenzimmer (Bühne: Florian Parbs). "Geweißelt" wird in Andorra zum "Sanktgeorgstag" von Andris Schwester Barblin (Theresa Palfi). Der protofaschistischen Faschiermaschine ist nicht zu entrinnen. Wasserhähne zieren die Wände. Mit Schulkreide schmieren die Glieder des Volkskörpers Zahlenkolonnen und andere gewerbliche Wichtigkeiten an die Vertikale.

Spröde Kleingeister: "Geweißelt" wird in Andorra zum "Sanktgeorgstag" von Andris Schwester Barblin (Theresa Palfi).
Foto: Petra Moser

Kein Ausstieg ist möglich. Der massige Tischler (Klaus Müller-Beck) schnieft allenfalls weißes Pulver aus dem Knauf seines Gehstocks. Sonst sind in Andorra keine Volksbelustigungen vorgesehen. Andri, der doch nur seine Ziehschwester ehelichen will, geht an der Übermacht bornierter Gewalt häppchenweise zugrunde, mit staunendem Blick und gebleckten Zähnen. Mohr lässt im Frisch wie im morbiden Schulbuch blättern. Irgendwann schneit Andris leibliche Mutter (Gunda Schanderer) als antike Göttin in das Lager herein.

Ihr versonnener Kuss mit dem wiedergefundenen Sohn, Andris milder Blick aus unwissenden Augen: In solchen Augenblicken geht von Mohrs konzentrierter Denkanordnung eine geradezu archaische Gewalt aus. Man scheut sich neuerdings, das Wort "konzentriert" zu gebrauchen. Für diese zu staatsbürgerlicher Wachsamkeit mahnende Andorra-Unternehmung ist er ideal am Platz. Auch weil das Ensemble vom Pfarrer (Horst Heiss) bis zum Gesellen (Jan Nikolaus Cerha) famos besetzt ist. Ein Kreidestrich, und jede Figur ist getroffen.

Lebenslanges Sterben

Ein anderer, untröstlicher Spross spezifisch österreichischer Verhältnisse war Autor Thomas Bernhard (1931–1989). Er ist übrigens nicht 1982 gestorben, wie der Programmfolder der Linzer Studiobühne im Landestheater behauptet, und auch nicht 1932 geboren. Aber jede Kleinlichkeit darf vor dem Abend Wille zur Wahrheit – Bestandsaufnahme von mir getrost verstummen. Regisseurin Verena Koch hat einen Unterstand aus Sandsäcken auftürmen lassen (Ausstattung: Ute Lindenbeck). Der älteste von fünf Bernhard-Darstellern beiderlei Geschlechts, Vasilij Sotke, klettert auf den höchsten Punkt des künstlichen Kindheitsgebirges. Bei jedem Tritt droht er zu straucheln.

Unterstand aus Sandsäckenm als künstliches Kindheitsgebirge: Thomas Bernhard im Linzer Landestheater.
Foto: Landestheater Linz / Ute Lindenbeck

Gedacht wird des Selbstdarstellers Bernhard in seiner Rolle als Chronist der ersten eigenen Entwicklungsschritte. Sotke klappert hurtig in die Mechanische, denn auf dem frühen Lebensweg sind fünf Stationen zu absolvieren, die Romane Ein Kind, Die Ursache, Der Keller, Der Atem und Die Kälte. Der Hosenmatz auf dem Waffenrad wächst und wächst, doch er gedeiht nicht recht. Er wird Internatszögling und Gemischtwarenhändler, um schließlich als Lungenkranker dem Tod mit knapper Not zu entrinnen.

Zu bewundern gibt es ein kleines Natur- als Deklamationstheater, in dem das lebenslange Bernhard-Thema – das Leben als Prozess hin zum Tode – von Kleist-Marionetten erhaben-nüchtern zum Klingen gebracht wird. Als Dandy schlägt Alexander Julian Meile dem Tod ein tänzelndes Schnippchen, Christian Polzer rührt mit Gesang. Das Linzer Landestheater beginnt in der zweiten Spielzeit von Schauspielchef Stephan Suschke zu schimmern und zu flirren. (Ronald Pohl, 14.1.2018)