Jede Nacht wäre vor diesem Tag zu kurz gewesen. Der Wecker in Jokkmokk läutete fünf nach halb fünf. Alles lag bereit. Auch die zurechtgeschnittenen Tape-Verband-Klebestreifen, mit denen ich mir die Energieriegel an die Unterschenkel klebte. Ich fädelte den Trinkschlauch vom Beckengurt über die Schulter, befestigte ihn in Mundnähe unterhalb der Startnummer und trug eine Dreiviertelstunde später meine Skier an den Startplatz. Musik schallte über den zugefrorenen See von Purkjaur, 15 Kilometer außerhalb Jokkmokks. Ein leichter Wind trieb Schneefall über den See und die Kälte durch die Rennanzüge. Dann der Knall und eine einzige Bewegung.

Der Nordenskiöldsloppet in Lappland ist das längste Langlaufrennen der Welt, das, wie hier zu sehen, auch über Seen führt. Der Sieger 2017, Andreas Nygaard, schaffte es in 11 Stunden 48 Minuten. Die nächste Ausgabe startet am 24. März.
Foto: Red Bull Content Pool / Adam Klingeteg

Schnell zog sich das Starterfeld auseinander, keine Positionskämpfe, kein geballtes Losstarten, und selbst der unweigerliche Adrenalinausstoß trug ein Lächeln durch den Körper. In weiten Bögen führten die ersten Kilometer über den See. Dem Lächeln im Körper folgte ein Staunen, ungläubig über das eigene Tun. Keiner der etwa 280 Starter war je so weit gelaufen und seit 1884 auch sonst niemand auf der Welt.

Beweis am Polarkreis

Damals hatte der Polarforscher Adolf Erik Nordenskiöld hier am Polarkreis mit einem Rennen bewiesen, dass zwei der samischen Mitglieder seiner Grönland-Expedition tatsächlich so weit auf das Inlandseis Grönlands vorgedrungen waren. Erst im Vorjahr war es auf witterungsbedingt verkürzter Strecke wieder ausgetragen worden. Nun lag die Originaldistanz vor uns: 220 Kilometer, wie damals in der klassischen Technik.

Schnell zog sich das Starterfeld auseinander, keine Positionskämpfe, kein geballtes Losstarten.
Foto: Red Bull Content Pool / Adam Klingeteg

Schneeknirschen, Stockeinsätze. Flach führte die Strecke über den See. Eisig war es hier normalerweise. Nicht nur auf dem See, eisig sollte die Spur aufgrund des für April typischen Wechsels von Nachtfrost und Tagesschmelze noch für einige Stunden sein. Nicht abwarten, hieß das, sondern Kilometer machen, das Eis ausnützen, dahinfliegen. Doch nichts, niemand flog, viel zu trocken und kalt war der Neuschnee. Anstatt leichtes Gleiten unter den Fußsohlen zu spüren, meldete sich nach wenigen Kilometern ein gänzlich gegenteiliger Alarm. Jeder Doppelstockschub landete in einem Bremsen, der Schnee rieb sich an den Skiern. Ich versuchte mir einzureden, es läge am Triebschnee hier auf dem See, in den Hügeln würde es leichter werden.

Nicht abwarten, hieß das, sondern Kilometer machen, das Eis ausnützen, dahinfliegen.
Foto: Red Bull Content Pool / Adam Klingeteg

Irgendetwas musste ich mir einreden. Denn ich hatte riskiert, hatte kein Steigwachs aufgetragen, mich für den Doppelstockschub entschieden. Für jene Form der klassischen Skilanglauftechnik, die zwar stets meine schwächste gewesen war, doch seit wenigen Jahren auch bergauf den eleganten Diagonalschritt immer mehr überholte. Grund dafür die einfache biomechanische Einsicht, dass ein kompakter, doch aufrecht und mit angewinkelten Armen einsetzender Schub deutlich wirkungsvoller als jede Form von Hüftknick samt nach vorn gebeugtem Oberkörper und ausgestreckter Arme war. Besser wurde es auch in den Hügeln nicht, dementsprechend schlecht mein Kilometerschnitt.

Ich hatte riskiert, hatte kein Steigwachs aufgetragen, mich für den Doppelstockschub entschieden.
Foto: Red Bull Content Pool / Adam Klingeteg

Dass ich nicht an die Kilometer denken durfte, wusste ich natürlich. Nicht bis zur Hälfte. Und auch danach länger nicht. Immerhin warteten bei zwei Drittel der Strecke noch über 70 Kilometer. Ich redete mir ein, an nichts zu denken und dachte an alles. Jeder mich überholende Läufer ärgerte mich, jeder schlechte Doppelstockschub. Ich sah die Parallelspuren der Loipe vor mir, Kurven, Anstiege und Abfahrten. Sonst nichts. Ich kämpfte, Meter für Meter. So blind auf diesen ersten 30, 40, 50 Kilometern, dass mir erst auf dem Rückweg bewusst wurde, was ich alles nicht gesehen hatte, so unbekannt erschien mir alles. So unbekannt wie ich mir selbst.

Blaubeersuppe

Was war geschehen? Waren es die ersten Passagen, in denen die Spur im zaghaft durchbrechenden Sonnenlicht allmählich schneller wurde? War es die Konzentration auf das Wesentliche, da die Landschaft nach Kilometer 70 unverkennbar den einzig hohen Übergang ankündigte? Frech dachte ich im Auf und Ab der Hügelrücken daran, allmählich das erste Drittel absolviert zu haben. Am Horizont tauchten immer höhere Schneeberge auf, Rentierspuren führten über die Loipe. In den Labestationen dampfende Blaubeersuppe, süßliche Energiegetränke, heißer Kaffee und kalte Bananen. Auf einmal blendete die Sonne. Den langen Anstieg absolvierte ich anfangs vorsichtig, weiter oben angriffslustig und genoss die steile Abfahrt, obwohl sie nur zu deutlich machte, welche Herausforderung sie in 30 Kilometern bedeuten sollte. Mit weiteren hundert vor mir.

Bei Kilometer 90 kam mir die Spitzengruppe entgegen. Eine der beiden langen Seeüberquerungen Richtung Wende hatte ich bereits hinter mir.
Foto: Red Bull Content Pool / Richard Ström

Bei Kilometer 90 kam mir die Spitzengruppe entgegen. Gut 20 Kilometer Vorsprung hatten sie, waren ebenfalls ein Drittel der ursprünglich anvisierten Zeit langsamer. Eine der beiden langen Seeüberquerungen Richtung Wende hatte ich bereits hinter mir. Die Umkehr lag aufgrund des deutlich außerhalb Jokkmokks erfolgten Starts bei Kilometer 100. Ein trügerischer Wendepunkt, zumal ich erst auf dem Retourweg bemerkte, wie sehr der Rückenwind den über die Seen erneut so trockenen, kalten Schnee ausgeglichen hatte. Der Wind fuhr mir entgegen, nahm sich von jedem Vorwärts meiner Doppelstockschübe seinen Teil. Eine einzige Gerade, ringsum kaum Anhaltspunkte. Bei Kilometer 110 ging es durch lichte Wälder, über welliges Terrain. Eine Seepassage hatte ich noch. Ich blickte kaum mehr voraus. Ich dachte nicht mehr an die verbleibenden Kilometer. Es war Nachmittag, es war immer noch derselbe Tag.

Wie sonst nur in Momenten des Erzählens, in denen die bloß vorgestellte Welt auf einmal zu einer ganzen Wirklichkeit wurde, fühlte sich die Strecke dieses Tages auf einmal wie eine erfundene an: Der See, dieser arme flache See, sollte er sehen, wo er blieb!
Foto: Red Bull Content Pool / Adam Klingeteg

Doch ich verzweifelte nicht. Wie unkenntlich mit Blick auf die immer unglaublichere Strecke jede meiner Bewegungen auch war, wie unkenntlich ich selbst, ich wurde ruhig. Wie sonst nur in Momenten des Erzählens, in denen die bloß vorgestellte Welt auf einmal zu einer ganzen Wirklichkeit wurde, fühlte sich die Strecke dieses Tages auf einmal wie eine erfundene an: Der See, dieser arme flache See, sollte er sehen, wo er blieb! Der Hohlweg erst recht! Ich donnerte den langen, steilen Anstieg Richtung Kilometer 125 hinauf, als wartete gleich dahinter das Ziel. Ich hasardierte, katapultierte mich in den steilsten Stücken an jenen vorbei, die sich vor Anstrengung selbst im geschummelten Skatingschritt verhaspelten. Was immer mich erfasst hatte, so müsste es sich anfühlen, läse man all die gelesenen wie ungelesenen Bücher seines Lebens nicht nur auf einmal, sondern lebte sie, als tränke man ein ganzes Meer aus.

Die erste Dämmerung

Auch die erste Dämmerung änderte daran nichts. Ich glitt durch Wälder und Forste, zog Abfahrten hinunter, erreichte Labestation um Labestation, aß Energieriegel, Kekse und dampfende Suppen, trat immer wieder kurz aus, den Rest verdampfte ich, den Rest verbrannte ich. Wie viel Hektik das Rennen zu dem Zeitpunkt umgab, da ein Gutteil des Starterfeldes seine Stirnlampen in Erwartung weitaus schnellerer Laufzeiten zumindest eine Labestation zu spät deponiert hatte, bekam ich nicht mit.

Im hellen Lichtkegel ging es in die Nacht, mit jeder Abfahrt rückte die weite und in der Dunkelheit unheimliche Seestrecke des Startbereichs näher.
Foto: Red Bull Content Pool / Adam Klingeteg

Ich sah mich bereits in der Finsternis, als mir eines jener Wunder meine Lampe bescherte, die einen auch im Nachhinein ungläubig darüber zurückließen, welche Odyssee dem vorangegangen war. Im hellen Lichtkegel ging es in die Nacht, mit jeder Abfahrt rückte die weite und in der Dunkelheit unheimliche Seestrecke des Startbereichs näher. Dann lag sie als fackelmarkierte Linie vor mir. Da und dort die langsam sich bewegenden Lichtpunkte der Läufer. Immer noch Stockeinsatz um Stockeinsatz, das Auf und Nieder des Körpers, das leise Zischen der Spur. Einatmen, Ausatmen.

Martin Prinz schnaufte mit 280 Mitstreitern tapfer um die Wette und belegte Platz 134.
Foto: Red Bull / Red Bull Content Pool / Adam Klingeteg

An der vorletzten Labestation wartete die Windjacke. Dass mein Vater mir dort beim Verzehr der Fleischsuppe per Livestream zusehen würde, erfuhr ich erst später. Es war kurz vor Mitternacht. Gut 15 Kilometer und ein langer Anstieg warteten noch. Dort oben, fünf Kilometer vor dem Ziel, die letzte Labestation. Ein erstes Zittern in den Beinen und Unglauben, als ich am Horizont über Jokkmokk weit im Osten ein Glühen sah. Ein neuer Tag, dort war sein erster Schein, während ich in das Dunkel der steilen Abfahrt bog, enge Kurven, unruhige Spur, bis die Bäume auf einmal Schatten vom Flutlicht des Zielbereiches warfen. Ich hörte den Sprecher, hörte die Musik, ich bog in das letzte Flachstück, bog in die letzte Kurve und zog meinen Zielsprint bereits vor Erblicken des Zieleinlaufs an. (Martin Prinz, RONDO, 18.1.2018)

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