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Donald Tusk (links) und Jean-Claude Juncker signalisieren Premierministerin Theresa May ganz offen, dass sie die Briten am liebsten auch nach dem März 2019 in der Europäischen Union hätten – als Mitglieder.

Foto: AP / Tatyana Zenkovich

Jedes Mal nach einem EU-Gipfel stellen sich der Ständige Präsident des Europäischen Rats, Donald Tusk, und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dem Plenum der Abgeordneten im EU-Parlament in Straßburg einer Debatte. So auch am Dienstagvormittag.

Den Anfang machte Tusk. Er rief in Erinnerung, dass man sich entschieden habe, bei den EU-Austrittsverhandlungen Großbritanniens ab sofort die "Phase zwei" zu beginnen, weil es "ausreichende Fortschritte" gegeben habe. Chefverhandler Michel Barnier werde also ab sofort Gespräche über die Beziehungen zum Königreich nach dem Austritt 2019 führen. Bis zu diesem Punkt war die Präsidentenrede ein Routinefall. Alles bekannt.

Weil der EU-Gipfel aber bereits vor Weihnachten war und fast einen Monat zurückliegt, griff Tusk mit nur ein paar Bemerkungen die neueste Debatte in Großbritannien auf, die ausgerechnet der Brexit-Betreiber Nigel Farage von Ukip vor wenigen Tagen ausgelöst hatte, indem er sich für ein neuerliches Referendum über den EU-Austritt aussprach, damit die Briten endgültig Klarheit schaffen könnten im Chaos.

Tusk: "Unsere Herzen sind offen"

Sollte die Bevölkerung ihre Meinung zur Union ändern, dann "sind unsere Herzen weiterhin offen für Sie", sprach Tusk die Briten direkt an. So klar hatte es bis dahin noch kein EU-Spitzenpolitiker ausgesprochen, dass die im März 2017 von Premierministerin Theresa May eingereichte Austrittserklärung nach Artikel 50 des EU-Vertrags jederzeit wieder rückgängig gemacht werden könnte.

Dass diese Botschaft politisch wie eine Bombe einschlug, dafür sorgte anschließend Kommissionschef Juncker, der Tusks Aussagen noch verstärkte: "Die Tür steht nach wie vor offen", rief er ins Plenum. Er, Juncker, hätte es nicht gern, wenn das in London überhört werde.

Bisher hatte die offizielle Lesart immer gelautet, dass Großbritannien genau zwei Jahre nach dem Austrittsgesuch am 29. März 2019 nicht mehr Mitglied der Union sein werde – sei es automatisch ohne Regelung, sei es durch einen "weichen" Brexit mit einem ausgefeilten Austrittsvertrag samt Anschlussregelungen.

Einer der ersten Regierungschefs, der diesen Vorstoß in Straßburg begrüßte, war Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP): "Ich bin froh, dass es das Angebot gibt, aber die Entscheidung liegt bei den Briten", sagte er. Der Abschluss der Brexit-Verhandlungen fiele im Herbst mitten in Österreichs EU-Präsidentschaft.

Kein Enthusiasmus in London

London reagierte ablehnend bis verhalten auf die Einladung. Ein Regierungssprecher ließ ausrichten, Großbritannien werde die EU verlassen. Viele Medien spielten die Bedeutung der Rede des EU-Ratspräsidenten herunter. Hinterbänkler im Unterhaus demonstrierten die anhaltende Spaltung des Landes: Während die Proeuropäer mit Begeisterung reagierten, nannte der konservative EU-Hasser Bernard Jenkin Tusks Idee absurd: "Kein ernsthafter Mensch in diesem Land will noch einmal abstimmen."

Seit Jahresbeginn haben wichtige politische Akteure einer zweiten Abstimmung das Wort geredet. Dazu gehören der langjährige Labour-Premierminister Tony Blair sowie dessen einflussreicher früherer Mitarbeiter Lord Andrew Adonis. Das Labour-Mitglied des Oberhauses trat vom Vorsitz einer Regierungskommission zurück, um freier gegen Mays harten Brexit-Kurs argumentieren zu können. Vergangene Woche brachte eben auch die Brexit-Galionsfigur Farage, einst Vorsitzender der EU-feindlichen Ukip, ein zweites Referendum ins Gespräch, widersprach sich allerdings tags darauf wieder. Immerhin brachte es der EU-Parlamentarier durch seine Manöver nach monatelanger Funkstille wieder einmal zu zahlreichen Medienauftritten.

Auch die öffentlich-rechtliche BBC spielte die Intervention am Dienstag herunter. In den Nachrichtensendungen wurde Tusk entweder gar nicht erwähnt – oder es wurde davon gesprochen, er habe "erneut" die Offenheit der EU betont. Die konservative "Times" titelte, der Pole habe "ein zweites Referendum gefordert".

Hingegen echote Labour-Abgeordneter Chuka Umunna Tusks Rede: Anders als von May behauptet, die den Brexit "irreversibel" genannt hatte, dürften seine Landsleute "ihre Meinung ändern", teilte der Proeuropäer in einer Aussendung des Thinktanks Open Britain mit.

EU-Befürworter vorn

Jüngste Umfragen ließen zwar den Schluss zu, das Verhältnis von Gegnern und Befürwortern des Brüsseler Klubs habe sich seit dem Referendum (52 zu 48 Prozent für den Austritt) umgekehrt. Die Firma Comres sah die EU-Befürworter sogar mit 55 zu 45 Prozent voran. Unklar bleibt aber, ob die Briten mehrheitlich überhaupt eine zweite Volksabstimmung binnen zwei Jahren wollen.

Die Regierung konzentriert ihre Anstrengungen aktuell darauf, möglichst rasch die Parameter jener Interimsphase bis Ende 2020 abzustecken, um die sie Brüssel gebeten hat. Londoner Vorstellungen zufolge sollen die Konditionen bis Ende März festgelegt werden. Hingegen heißt es aus dem Umfeld des EU-Chefunterhändlers Michel Barnier, die Verhandlungen würden wohl bis Mitte des Jahres dauern. (Thomas Mayer aus Straßburg, Sebastian Borger aus London, 16.1.2018)