Anmut und Armut: "Die kleine Tänzerin von vierzehn Jahren".

Foto: RMN-Grand Palais (Musée d'Orsay)

Paris war Edgar Degas noch nie sehr zugetan. Der bärbeißige Maler, 1917 verstorben, erhält erst jetzt eine ebenso verspätete wie versteckte Hommage. Am Eingang des Musée d'Orsay weist kein Schild auf die Ausstellung hin; Eingeweihte müssen sie via Aufzug im zweiten Stock suchen, dann mit der Rolltreppe drei Etagen höher fahren, um endlich an der Cafeteria vorbei zu den Werken des untypischen Impressionisten zu gelangen. Die acht verdunkelten Räume sind allerdings gerammelt voll: Degas bleibt populär, auch wenn ihn die Pariser Kuratoren schneiden.

Das Ausstellungsmotto Degas Danse Dessin ("Degas, Tanz, Zeichnung") stammt von Paul Valéry, der 20 Jahre nach dem Tod des ihm nahestehenden Malers einen gleichlautenden Essay herausgab. Textauszüge des Autors begleiten die Ausstellung, als würden Degas' Zeichnungen, Radierungen, Gemälde und Skulpturen nicht genügen. Valéry (1871-1945) war ein großer Bewunderer seines älteren Freundes; allerdings erweitern nur wenige seiner Kommentare die heutige Sicht auf das Werk von Degas. Ein Gewinn ist, wie der Dichter die Bewegung und Intensität in Degas' Werken auf den Ratschlag von Ingres zurückführt: "Zeichnet Linien." Valéry meint, Degas vermöge mit seinem Zeichenstift "zu schauen" – vielleicht mit ein Grund, dass Picasso seinen Kollegen zu Unrecht als Voyeur bezeichnete. Zahllose Studien von Händen, Hüften oder Gesichtern fügt Degas in fast klinischen "Operationen", wie Valéry sagt, zu ganzen Körpern, die meist in gespannter Bewegung verharren. Degas schafft indes keine Frankensteins, er schafft Tänzerinnen.

Nicht zu bändigen

Die bekannteste seiner "danseuses" hat er nicht auf der Leinwand eingefangen, sondern als Wachsfigur: Die kleine Tänzerin von vierzehn Jahren. Ein Meter hoch, in Wachs modelliert, mit einem Ballettröckchen, Korsett und richtigen Haaren, war sie der Skandal des Pariser Salons von 1881. Zu realistisch, zu lebensecht: frech und fragil, mager und arm, eine Pose einnehmend und doch nicht zu bändigen; den rechten Fuß provokant quergestellt, das spitzbübische Antlitz vielleicht der Sonne zugereckt. Die heute in fast 30 Bronzeskulpturen über die ganze Welt verstreute Skulptur der Kleinen Tänzerin bildet ganz natürlich den Mittelpunkt der Ausstellung.

Die treffendsten Worte zu ihr fand nicht Valéry, sondern Camille Laurens in einem soeben auf Französisch erschienenen Report. Alle auffindbaren Fakten hat Laurens (60) zusammengetragen. Die kleine Tänzerin hieß Marie Geneviève van Goethem. Sie war die mittlere Tochter eines belgischen Paares, das aus Armut nach Paris ausgewandert war und nacheinander in sieben Absteigen des Pigalle-Viertels lebte. Alle drei Mädchen nahmen Tanzunterricht an der Pariser Oper; aber nur eine der "petits rats" (Ballettratten) brachte es zur Tänzerin und später zur Ausbildnerin. Alle drei standen Degas Modell, wie aus dessen Aufzeichnungen hervorgeht. Aber nur die kleine Marie tat es Degas an. Er habe indes "nicht mit ihr geschlafen", meint Laurens.

Oper und Ballett standen damals in einem üblen Ruf. Die "Abonnierten", ausschließlich Männer, hatten das Recht, hinter den Kulissen die Logen der Tänzerinnen (das Schutzalter betrug damals 13 Jahre) aufzusuchen, und zahlreiche Mütter hätten sich dabei eher als Puffmütter betätigt, wie Laurens festhält. Degas sei indessen kein "abonné" gewesen, er habe in den Tänzerinnen eher das Rätsel der Frau und das Abbild seiner eigenen Ängste gesucht.

Inniger als zur bald aus seinem Leben verschwundenen Marie war zweifellos sein Verhältnis zur Wachsskulptur: Sie gab er nie aus der Hand. Was aus dem Mädchen geworden ist, wüsste niemand zu sagen. Nur einmal taucht ihr Name noch in den Pariser Archiven auf, als ihre Heirat ausgeschrieben wurde. Der Eheschluss ist aber nirgends dokumentiert, genauso wenig wie ihr Ableben. (Stefan Brändle, 17.1.2018)