Das Handy zeichnet sämtliche Schritte des Benutzers auf.

Foto: Der Standard

Die verschiedenen Apps bieten Anreize für einen gesünderen Lebensstil.

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In jedem etwas neuerem iPhone liegt ein Geheimnis vergraben. Irgendwo findet sich vorinstalliert eine harmlos aussehende App mit einem roten Herzen. Wer "Health" anklickt und sich durch die angebotenen Funktionen durchwühlt, erlebt eine Überraschung: Das Handy hat sämtliche Schritte des Benutzers aufgezeichnet, Tag für Tag, sogar Minute für Minute – und das seit der ersten Inbetriebnahme. Dafür sorgt ab dem iPhone 5s ein Sensor, der jede Bewegung registriert. Das Gleiche gilt für bessere Android-Geräte, auf denen Google Fit die Bücher führt.

Für manche wird damit ein orwellscher Albtraum wahr, und sie suchen sofort den Pfad, um die Aufzeichnung zu beenden (Tipp: Es geht über Einstellungen / Datenschutz / Bewegung & Fitness / Fitnessprotokoll) und die bisherigen Daten zu löschen. Für andere aber eröffnet sich eine faszinierende, sogar lebensverändernde Erfahrung. Ganz ohne Zusatzausrüstung, wie etwa ein Fitnessband, beginnen sie, ihre täglichen Schritte zu zählen – zuerst aus Neugier, später mit wachsendem Ehrgeiz und schließlich aus Obsession.

Denn wer sich eine der vielen zusätzlichen Schrittzähler-Apps herunterlädt, kann nicht nur die tägliche Gehbilanz in schönen Formen und Farben betrachten. Man setzt sich auch ein Tagesziel. In Japan wurde einst die Zahl 10.000 als Messlatte für ein aktives Leben populär. Es können aber auch weniger oder mehr sein – die Medizin kennt hier keine strikten Vorgaben. Doch sobald das Ziel einmal eingetragen ist, beginnt sich der ganze Tag um die Frage zu drehen, ob es übertroffen oder verfehlt wird.

Strähnen mit biblischer Gnade

Bei Stepz färbt sich die Säule von rot auf orange, sobald die halbe Marke erreicht wird, und schließlich auf grün. Stepsapp bietet eine besonders gute Übersicht über die Wochen-, Monats- und Jahresbilanz. Und Schrittzähler++ zeigt auch die Zahl der Tage auf, an denen das Ziel ununterbrochen erreicht worden ist. Je länger die Strähnen werden, desto größer der Drang, die Serie nicht mehr zu unterbrechen. Und sollte es doch einmal geschehen, bietet die App eine fast schon biblische Ruhetagsoption: Wer das Ziel sechs Tage lang erfüllt hat, kann einen Tag auslassen, ohne die Erfolgssträhne zu unterbrechen.

An manchen Tagen lässt sich das problemlos erreichen. Für 10.000 Schritte reichen etwa sechs Kilometer, einschließlich aller Wege im eigenen Heim oder am Arbeitsplatz. Bloß das Handy muss dabei sein, möglichst in einer Hosentasche. Da haben es Männer etwas besser. Das Gerät zeichnet über den Höhenmesser auch die Zahl der echten oder – etwa bei einer Bergwanderung – imaginären Stockwerke auf. Und anders als bei Sportler-Apps wie Runtastic oder Strava muss nichts gestartet werden, es wird automatisch mitgezählt.

Auch Fahrradbewegungen werden gezählt – ein Kilometer schlägt sich in etwa 400 Schritten nieder. Die App Moves kann sogar den Unterschied erkennen – und registriert auch gleich auf einer Karte, wo man gefahren und gegangen ist. Das ist selbst manchem Datenschutzmuffel zu viel.

Verpönte Verzweiflungstaten

Doch was, wenn es abends wird, und der Balken noch rot ist? Welche Wege kann man noch zu Fuß einlegen, wo noch auf- und abmarschieren, damit es kein Tag des Scheiterns wird? Manche steigen aus der U-Bahn früher aus, wippen beim Zähneputzen auf und ab oder – eine verpönte Verzweiflungstat – schütteln das Handy minutenlang mit der Hand, um Schritte zu simulieren. Punkt Mitternacht läuft die Zeit ab – da beginnt der nächste Tag zu zählen.

Auch die Wissenschaft hat die Schrittzähler für sich entdeckt. Bei einem Treffen mit dem israelischen Ökonomen Uri Gneezy in Wien schlug dieser vor, doch rund um sein Hotel spazieren zu gehen. Die Gegend sei so schön, sagte er zunächst, doch bald stellte sich heraus: Es ging ihm um die Schritte. Das war kein Zufall: Gneezy ist Verhaltensökonom, der sich mit Anreizen für einen gesünderen Lebensstil beschäftigt. Und hier sind Schrittzähler fast unschlagbar.

Es ist 19.05 Uhr, ich sitze in der Redaktion und schreibe an diesem Artikel. Mein Schrittzähler steht auf 3516 und mein Ziel ist 10.000, das ich mit wenigen Unterbrechungen 350 Tage lang erreicht habe. Auch heute muss ich es schaffen, und wenn es mich den Rest des Abends kostet. Der Schrittzähler beherrscht mein Leben so wie das von Millionen anderen – ein Schrecken, wie ihn sich nicht einmal George Orwell ausdenken konnte. (Eric Frey, 20.1.2018)