Wien – Jürgen Teller hat keinen Instagram-Account. Was man dort macht, müsse man sich genau überlegen. So wie seine Fotos, die, obwohl sie Spontaneität ausstrahlen, genauestens kalkuliert sind.

Auch Fotos mit dem Handy waren lange nicht sein Ding. Jetzt schon. Für eine Gruppe sozial benachteiligter Jugendlicher im Londoner Stadtteil North Kensington, wo der 53-Jährige sein Studio hat, organisierte er sogar Smartphones, damit sie das, was sie bewegt, festhalten können. Sie sind quasi die zweite Klasse von Professor Jürgen Teller, der seit 2014 an der Nürnberger Akademie der bildenden Künste lehrt.

Was Jürgen Teller an Selbstporträts schätzt: "Ich muss mich um Eitelkeit nicht scheren und kann mit mir so umgehen, wie ich will."

Fotoblog Robert Newald: Jürgen Teller in Wien
Foto: Robert Newald

Bekannt wurde Teller, der, als er 1986 nach London ging, die ersten Monate vom Verkauf seiner Fotoausrüstung lebte, mit Aufnahmen von Nirvanas Nevermind-Tournee, 1991, zu einer Zeit als man deren Kometenaufstieg allenfalls ahnen konnte. In internationale Modekampagnen brachte Jürgen Teller einen neuen, rotzigen Stil: ungebügelte Authentizität statt aalglatten Glamours. "Genial", sagen die einen, "schamlos" oder "keine Kunst", die anderen.

Er veröffentlichte in einflussreichen Magazinen wie dem W Magazine, iD und Purple und gestaltete Albumcover für Musiker wie Elton John, Björk, Falco oder Kylie Minogue. Vor seiner Linse posierten quasi schon alle: Topmodels wie Kristen McMenamy oder Kate Moss, Popstars, Ikonen der Fotografie wie Cindy Sherman und immer wieder die Grande Dame der Schauspielerei, Charlotte Rampling. Sie fotografierte er nachts im Louvre – nackt. So wie Vivienne Westwood, die sich für ihn auf einem barocken Kanapee räkelte. Aufnahmen, die aktuell im Wiener Belvedere in der Ausstellung Kraft des Alters (bis 4. 3.) zu sehen sind. In der Galerie Christine König (bis 3. 3.) gibt es nun ein Wiedersehen mit Rampling.

Jürgen Teller: "Charlotte Rampling, a Fox, and a Plate" (2016)
Foto: Jürgen Teller

STANDARD: Charlotte Rampling mit dem Fuchs, ein plattgewalzter Frosch, Stephanie Seymour auf einer ausgestopften Löwin, US-Fotograf William Egglestone Auge in Auge mit einer Gorillaskulptur, dazu das Schild "Das Recht, Waffen zu tragen": Sind die Begriffe Tier, Gewalt, Mensch das, was die Schau zusammenhält?

Teller: Es ist eher eine Art seltsames Märchen. Zu den Fotos vom Model Malgosia auf der Sigmund-Freud-Couch habe ich Gebirgslandschaften kombiniert, die ich jetzt erst im Oman, wo ich über Weihnachten im Urlaub war, gemacht habe.

Jürgen Teller: "Malgosia on Sigmund Freud’s Couch" (2006)
Foto: Jürgen Teller

STANDARD: Neben solchen Seelenlandschaften taucht jetzt auch häufig der Wald als Motiv auf. Ihn zu fotografieren sei Ihnen lange nicht gelungen. Warum jetzt?

Teller: Nach dem Tod meines Business-Partners vor acht Jahren mieteten wir ein Haus in Suffolk an der Küste. Ich konnte nicht richtig schlafen und so sind wir aufs Land. Da bin ich oft irre früh als es hell wurde – es war Frühsommer – aufgestanden und durch die wunderschöne Landschaft gewandert. Dann habe ich die Landschaft ganz normal fotografiert.

STANDARD: Was heißt "normal" fotografiert?

Teller: Ich habe einfach gerade geschaut und fotografiert, ohne zu viel zu wollen, ohne extreme Perspektiven. Ich habe einfach die Landschaft gefühlt und dokumentiert.

STANDARD: Weil Sie Märchen sagten: Dort ist der Wald ein Ort der Entrechteten und Fabelwesen, mit Angst behaftet, aber auch Symbol für Freiheit. Sie sind im fränkischen Bubenreuth bei Erlangen am Waldrand, einem im Nürnberger Land typischen "Steckerleswald" (nur Nadelbäume), aufgewachsen. Was war er für Sie?

Teller: Für mich war es Freiheit. Wegzukommen vom Elternhaus. Ich wohnte gleich neben dem Wald, das war mein Spielplatz. Ich bin da herumgehangen. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, dass Kinder da den ganzen Tag allein 'rumeiern. Aber meine Eltern haben beide gearbeitet.

STANDARD: Sind sie dem Fuchs begegnet?

Teller: Nein, mehr Rehen und früher noch wahnsinnig vielen Maikäfern, von denen es heute viel viel weniger gibt, und Glühwürmchen. Magisch.

STANDARD: Wie kam es zur Idee, Charlotte Rampling ein Date mit dem Fuchs haben zu lassen?

Teller: Charlotte, mit der ich befreundet bin und die ich seit 20 Jahren kenne, rief mich an und fragte, ob ich sie für ein Magazin-Cover fotografieren kann – in Paris. Ich hatte aber keine Lust auf Paris, weil ich sie dort schon oft fotografiert habe und mir gerade in London ein neues Studio gebaut hatte. Und als dort im hintersten Garten meines Studios plötzlich ein Fuchs stand, mein Sohn hatte ihn entdeckt, hat er mich total an sie erinnert. Sie hat auch etwas Fuchsartiges, Tierisches, ihr Blick, ihre Augen. Und so musste ein zahmer Fuchs her. Ich habe einen Teller Milch auf den Boden gestellt, Charlotte hat auf allen vieren die Milch geleckt, und der Fuchs kam immer näher, bis er schließlich auch getrunken hat. Das war irre.

STANDARD: Wie schaffen Sie es, ein solches Vertrauen aufzubauen, dass sich Stars ausziehen, am Boden krabbeln oder sich – wie Victoria Beckham – in eine Einkaufstasche stecken lassen?

Teller: Mit Charme und Überzeugungskraft. Ich kriege das immer hin, wenn es für mich Sinn macht. Ich rede mit ihnen und mache es ihnen klar.

STANDARD: Sie sind von entwaffnender Ehrlichkeit und geben zu, dass es viele Kampagnen gab, bei denen Sie im Vorfeld wahnsinnig nervös waren. So etwas unterläuft ja herkömmliche Bilder von Coolness ...

Teller: Damit habe ich kein Problem. Ein gutes Foto zu machen macht natürlich nervös! Jeder kann einmal ein gutes Foto machen, aber ich muss die ja am Montag oder Dienstag machen, also dann, wenn die Models, die Klamotten, das ganze Blabla gebucht sind und das Set steht. Ich bin immer nervös. Auch jetzt. Ich habe heute Friederike Mayröcker getroffen. Überall in der Wohnung sind Papierstapel. Aber ich habe sie im Bett fotografiert. Es war logisch, weil sie sagte, dass ihr Arbeitstisch im Bett ist. Am Anfang war sie etwas scheu, aber wenn das in irgendeiner Situation nicht angemessen gewesen wäre, hätte ich das nicht gemacht.

STANDARD: Ist die eigene Offenheit das Geheimnis dafür, dass sich die Porträtierten öffnen?

Teller: Ich bin einfach sensibel. Ich fühle mich da ein in die Sache.

STANDARD: Ihre Fotos sind auch enorm direkt und schonungslos.

Teller: Ja, aber auch einfühlsam. Und wenn's um Fotos geht, bin ich auch schonungslos.

STANDARD: Auch zu sich selbst?

Teller: Klar. Mit den Selbstporträts angefangen habe ich, weil bei den Fotos von Celebrities und Models immer viel Eitelkeit hineinspielte. Ich wollte spüren, wie es sich anfühlt, wenn man von sich selbst fotografiert wird. Ich wollte dabei auch etwas lernen. Ich hab ein gutes Gefühl bekommen für die Kamera, ich weiß nun genau, was die Linse macht. Und ich dachte mir auch 'Ich muss mich um Eitelkeit nicht scheren". Ich kann dabei mit mir so umgehen wie ich will. Und das hat meine Arbeit auch beeinflusst. Ohne diese Selbstporträts wären die Nacktfotos mit Vivienne Westwood und Charlotte Rampling nie zustande gekommen.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Wovon lässt es sich nun besser leben: von Fashion-Fotografie oder freier Fotokunst?

Teller: Finanziell? Von den Modekampagnen!

STANDARD: Könnten Sie sich auch vorstellen, damit aufzuhören?

Teller: Nein, weil’s Spaß macht. Wenn ich nur Fashion machen müsste, wäre mir zu langweilig. Aber es bringt Dir auch Ideen und man kommt in bestimmte Teile der Welt oder an Fotolocations, wo man selbst die Tür nicht öffnen könntet. So wie das Louvre.

Jürgen Teller: "Beatrice Dalle No.12" (Man About Town, Magazine Cover Spring/Summer 2017)
Foto: Jürgen Teller

STANDARD: Wenn man so wie Sie auf Fotos ebenso Verletzungen, Vernarbungen, Verlebtes zeigt, dann wird das gerne als Negativ eines Positivs umschrieben, also als Verneinung eines Ideals. Wie verstehen Sie Schönheit?

Teller: Schön kann alles sein. Für mich ist es schön, wenn man die Person fühlt und erkennt und sie glücklich in Seele und Körper ist: Das ist Zufriedenheit. Viele Leute eiern irgendetwas hinterher, das sie eigentlich nicht sind.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, es sei ja klar, dass ein 16-jöhriges Model schön ist. Ist diese Schönheit langweilig?

Teller: Nein. Es gibt ja wunderschöne Lolitas. Wow. Das ist wie eine Blume oder ein blühender Kaktus. Genauso wie ein alter Baum schön ist. Aber nur so 16-jährige, dünne Mädchen zu fotografieren, interessiert mich nicht.

STANDARD: Ihre frühen Selbstporträts, in denen Sie sich stark mit Ihrer Biografie oder mit der problematischen Figur Ihres trinkenden Vaters beschäftigt haben, sind sehr drastisch: Sie posierten etwa nackt und mit Flasche auf seinem Grab.

Teller: Das Leben ist drastisch.

STANDARD: Hat Sie das ausgesöhnt mit Vergangenem?

Teller: Das war der Versuch. Sicher. Geholfen hat es auf jeden Fall. Meine Mutter fand das grauenvoll, aber im Gespräch kamen wir uns näher, und sie verstand irgendwann, warum ich das machen musste.

STANDARD: Sie haben auch ein Fotobuch über das Reichsparteitaggelände in Nürnberg gemacht, ein Ort, wohin sie, wenn sie als Kind zu Besuch bei der Oma waren, abhingen – verbotenerweise. Ihre Abwesenheit habe aber ihren Vater zuhause immer aggressiver gemacht, erzählten sie. Hat das ihr Handeln beeinflusst?

Teller: Die Zeit in Nürnberg war das Paradies für mich. Wenn ich zurückgekommen bin, war schlechte Stimmung, er hatte einen Hangover, ich musste leise sein, die Mutter hatte ein blaues Auge. Wenn ich als Kind da war, war das ein Grund für ihn, weniger die Sau rauszulassen. Trotzdem wollte ich so oft wie möglich weg sein.

STANDARD: "Enjoy Your Life" hieß Ihre letzte große Museumsschau. War das auch eine Aufforderung an sich selbst?

Teller: Von meinem Vater habe ich gelernt, dass man nur ein Leben hat und du entscheidest, diesen oder jenen Weg zu gehen. Du musst die Wege einleiten, die zum Positiven führen. Ich bin auch mal melancholisch, aber man muss daran arbeiten. Ich habe ein "amazing life" – oder besser: Ich mache mir mein Leben "amazing". (Anne Katrin Feßler, 20.1.2018)

Foto: Robert Newald