Türkische Artillerie beschoss am Sonntag Stellungen der kurdischen YPG nahe der syrischen Grenze.

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Ankara/Athen – Moscheebesucher in der Türkei hörten am Wochenende ein ungewohntes Gebet ihrer Imame. Nachdem Staatschef Tayyip Erdoğan am Samstagnachmittag den Angriff auf die syrische Grenzprovinz Afrin bekanntgegeben hatte, lasen die Prediger auf Anweisung der Regierung landesweit die Al-Fath-Sure des Koran. Sie beginnt mit dem Satz: "Wir haben dir einen offenkundigen Sieg gewährt." Ihrem Sturm auf die von Kurden kontrollierte Provinz im Nachbarland wollte die türkische Führung auch eine religiöse Begründung geben.

Jörg Winter berichtet aus Istanbul über den Einmarsch türkischer Bodentruppen in Syrien und spricht unter anderem darüber, wie gefährlich die Konfrontation zwischen der Türkei und kurdischen Einheiten einzuschätzen ist.
ORF

Russland, die USA und Frankreich riefen die Türkei am Sonntag zur Zurückhaltung auf. Die französische Regierung beantragte eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats. Die Kurdenmiliz ist eigentlich ein militärischer Verbündeter der USA. Die Provinz Afrin sei jedoch nicht Teil der gemeinsamen Operationen, hieß es. Der Sicherheitsrat will laut dem französischen Außenminister Jean-Yves Le Drian am Montag zu Konsultationen zusammenkommen.

Drohungen an Kurden im Land

In der Türkei sagte die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, der Militärintervention ihre "volle Unterstützung" zu. Die Kurden im eigenen Land warnte Erdoğan ausdrücklich vor Protesten. "Unsere Sicherheitskräfte sitzen euch im Nacken", drohte Erdoğan den Angehörigen der kurdischen Minderheit in der Türkei.

Sonntagnachmittag versuchten regierungskritische Gruppen gleichwohl, im Istanbuler Stadtteil Kadiköy gegen den Krieg zu demonstrieren. Türkische Bodentruppen waren zu diesem Zeitpunkt bereits offiziell in die Provinz Afrin eingerollt. Am zweiten Tag der "Operation Olivenzweig" überquerten Panzer nahe der türkischen Stadt Kilis die Grenze nach Syrien. Mehr als 70 Kampfjets der türkischen Armee sollen am Samstag Stellungen der Kurdenmiliz YPG bombardiert haben.

Ankaras "Sicherheitszone"

Ziel der Operation sei zunächst die Einrichtung einer "Sicherheitszone", die 30 Kilometer weit in syrisches Gebiet hineinreiche, erklärte der türkische Regierungschef Binali Yıldırım. Die von den syrischen Kurden kontrollierte Provinz ist etwa 40 Kilometer breit. Einem Bericht der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge öffneten syrische Regierungstruppen eine Straße von Aleppo nach Afrin, damit die Kurdenmiliz Verstärkung anfordern konnte.

Die Kurden hatten 2012, im zweiten Jahr des Kriegs in Syrien, die Provinz Afrin übernommen und später einen "Kanton" ihres Verwaltungsgebiets Rojava ausgerufen. Rojava erstreckt sich entlang eines Großteils der türkisch-syrischen Grenze. Die türkische Führung sieht in dem Selbstverwaltungsgebiet eine Bedrohung ihrer Sicherheit. Sie argumentiert zum einen mit der Verbindung zwischen der kurdischen Partei PYD und der Untergrundarmee PKK, die Terroranschläge in der Türkei ausführt; zum anderen fördere die Existenz von Rojava Autonomiebestrebungen im mittlerweile von der Regierung abgeschotteten kurdischen Südosten der Türkei.

Mit dem ersten Einmarsch der Armee in Nordsyrien im August 2016 verhinderte Ankara den Anschluss Afrins an die weiter östlich gelegenen Kantone von Rojava. Im Oktober 2017 verlegte die Türkei in Absprache mit Russland auch Einheiten in die nordsyrische Provinz Idlib und kreiste damit die Kurden in Afrin ein. (Markus Bernath, 22.1.2018)