Wer die Anden von Chile nach Argentinien überqueren will, kann das auf viele Arten tun. Lang genug sind sie ja, und lang genug ist auch die Grenze, die sich die beiden Länder teilen. Doch egal, in welchem Gebiet - zwischen den Salzwüsten im Norden und Patagonien im Süden - man es versucht, nirgends wird man die Dimensionen dieses Gebirgszugs ähnlich spüren wie im zentralen Teil Chiles rund um Santiago.

Denn wo sonst auf der Welt kann man von Meereshöhe starten und innerhalb von weniger als 300 Kilometern bis auf knapp 7000 Meter aufsteigen? Wer einmal bei klarer Sicht am Gipfel des Monte Campana gestanden ist - eine knappe Autostunde nördlich von Santiago -, weiß, dass es sogar den perfekten Ort dafür gibt, um diese Dimensionen zu überblicken - vor sich am salzigen Horizont die Hafenkräne von Valparaiso und im Rücken die Gipfelschneefelder des Aconcagua. Hier spätestens wird dem Reisenden die verrückte Geografie dieses Landes bewusst, das sich bei 180 Kilometern Durchschnittsbreite über eine Länge von 4300 Küstenkilometern erstreckt. Dieses Land ist so schmal, dass im Winter mitunter Hagel fällt statt Schnee, weil dem Niederschlag vom Pazifik keine Zeit bleibt, sich abzukühlen und Kristalle zu bilden. Wen wundert es da, dass von den 5.000 Pflanzenarten Chiles mehr als die Hälfte endemisch sind?

Die Anden zu überqueren, das war von Beginn an mein Traum. Wie San Martín, der Anfang des 19. Jahrhunderts Argentinien und danach Chile von der Herrschaft der Spanier befreite. Oder doch nicht wie San Martín, für den man auf beiden Seiten der Anden Denkmäler errichtet hat. Weniger heroisch und nicht mit einer ganzen Armee im Rücken, dachte ich mir, während ich die Anden 1996 zum ersten Mal mit dem Autobus überquerte - von Mendoza nach Santiago - und kurz nach Puente del Inca die mächtige Südwand des Aconcagua an uns vorbeizog - noch bevor wir die Grenze zu Chile erreichten. Ein ärgerliches Detail, das in chilenischen Schulbüchern lange Zeit ignoriert wurde. Heute verbindet ein schlecht durchlüfteter Tunnel zwei Länder, die durch mehr als ein Gebirge getrennt sind, bevor sich die Ruta Internacional in den so genannten caracoles, "Schnecken"-Kehren, ins fruchtbare Valle Aconcagua hinunterwindet.

Und nur ein paar Schritte vom Autobus entfernt kann es passieren, dass einen die Einsamkeit überfällt, inmitten der Anden und mit ihr eine überraschende Nähe zu all den namenlosen Riesen, die sich um den Horizont streiten. Denn die Natur hier ist nicht die freundliche, wie wir sie von den Alpen her kennen. "Sie ist nicht der Garten des Menschen, sondern einfach der unberührte Globus", wie Henry David Thoreau einmal über einen anderen Teil der Erde schrieb.

Die, die über die Anden reden, reden vom Aconcagua. Er ist ein Modeberg, ein Eckpunkt in jeder Bergsteigerlaufbahn. Und das vor allem, weil er mit seinen 6959 Metern als einziger Berg außerhalb Asiens die magische 7000er-Marke streift - und somit geeicht ist und eingetragen in die Skala der möglichen Erfahrungen und Abenteuer. Ein kanalisierter Traum, ein sicherer Spielstein, wenn es darum geht, als Abenteurer zu beeindrucken, die Costa Brava für Andinisten. Doch Zahlen sind abstrakt und gefährlich, wenn man ihnen sein eigenes Schicksal überantwortet. Bei mehr als 2000 Besteigungen in einem guten Sommer sind auch die Tragödien statistisch vorhersehbar.

Weil der Aconcagua Garant ist für ein zeitlos touristisches Geschäft, wurde das argentinische Mendoza zunächst nicht durch den Weinbau berühmt, sondern als Basecamp für diesen Berg. Kommt man heute in die Provinzhauptstadt Mendoza, scheinen die Anden nur aus einem Berg zu bestehen und das, obwohl von hier aus zwei andere 6000er beeindrucken, der Cerro del Plata und der Vulkan Tupungato, der selbst aus einer Entfernung von 150 Kilometern zum Greifen nah scheint.

Damals, mit diesem ersten flüchtigen Blick von Mendoza aus war meine Idee geboren, den Tupungato, der trotz seiner Nähe zu Mendoza auf der einen und der chilenischen Hauptstadt auf der anderen Seite ein einsamer Grenzberg geblieben ist, zu besteigen. Dort, wo die lange Kette der Kordilleren ein letztes Mal die 6500-Meter-Grenze überschreitet, bevor sie allmählich nach Süden hin in die niedrigeren, zunehmend feuchter und grüner werdenden Bergregionen Patagoniens absinkt. Dort, wo letztes Jahr ein gewisser Alejo Moiso den Mendozinos die Dimensionen der Anden ins Gedächtnis rief. Denn er war es, der nach 53 Jahren die Überreste jenes Flugzeugs fand, das am 2. August 1947 mit elf Personen an Bord in der Gegend des Tupungato abgestürzt und seither verschollen war. Das Projekt, mit einem Freund gleichzeitig mit der Überquerung der Anden von Chile nach Argentinien auch den Tupungato zu besteigen, entstand dann nach und nach.

Doch während es rund um den Aconcagua eine Überfülle an Informationen und festgeschnürten Angeboten gibt, kennt man in Mendoza vom Tupungato gerade mal seinen Namen. Und die, die ihn in den Mund nehmen, tun dies kleinlaut und zusammen mit der warnenden Übersetzung: "Berg der stürmischen Winde". Nicht einmal über seine Höhe herrscht Einigkeit: Die Angaben schwanken hartnäckig zwischen 6570 und 6800 Meter. Und während heute 33 Routen auf den Gipfel des Aconcagua führen, existieren auf den Tupungato, der nur knappe 100 Kilometer weiter südlich ist, gerade mal zwei von jeder Seite. Knappe vier Jahre nach meiner ersten Autobusüberquerung, im Dezember 2000, war es so weit: Alle Permits waren eingebracht, alle Kontrollen passiert, Gelände- und Kartenwinkel verglichen, die Freunde verabschiedet und wir bereit für die erste Nacht. Abgeladen am Ende der Straße, endlich allein.

Was dann kam, ist eine andere Geschichte, die sich nur ganz kurz oder ganz lang erzählen lässt. In dieser Umgebung drängt sich der Gedanke an Bruce Chatwin auf, der über Patagonien schrieb, dass es hier nur Dinge gibt, die ganz weit entfernt sind oder ganz nah - und niemals ein Dazwischen. Wir sind auf der chilenischen Seite in die Anden hinein- und auf der argentinischen Seite wieder hinausgegangen - zu zweit, mit je 31 Kilogramm Gepäck am Rücken. 13 Tage mit GPS, Kompass und Karte und 15.000 Höhenmeter im Auf- und Abstieg. 13 Tage ohne einen Menschen zu sehen - über 160 Kilometer Distanz und zwei Pässe über 5000 Meter.

Der große Unterschied zu allem bisher Gemachten: das ständige Hinauf und Hinunter ohne bekannten Rückweg. Alles, was wir sahen, sahen wir zum ersten und zum letzten Mal. Wen kümmert es, dass wir den Gipfel nicht schafften. Wir saßen dort oben an der Grenze von Chile und Argentinien inmitten der Anden und warfen die Nerven weg, bevor es richtig gefährlich wurde. Der Wind war nicht nur Wind, und die Wolken waren nicht nur Wolken. Wir konnten die Einsamkeit schmecken.

Wolfgang Tonninger, 38, klettert seit mehr als 20 Jahren. Er lebt und arbeitet als Knowledge-Worker und Autor in Wien.